Tübingen: Kapitalismus vor dem Aus?
Daten und Teilnehmer
Bei dieser Podiumsdiskussion am 26.5.2009 war ich also dabei. Der Hörsaal war mittelgroß, und während eine Viertelstunde vor Beginn noch nicht viel los war, reichten am Ende die Sitzplätze nicht aus.
Schon bei der Eingangsfrage, was denn Kapitalismus überhaupt sei, bliebt Prof. Starbatty nicht nur eine Antwort schuldig (er möge keine "Generalisierungen"), sondern verstieg sich auch nach wenigen Sätzen zur Feststellung, daß eigentlich nur die Amis an allem schuld seien. Von der Finanzkrise der USA zur Realwirtschaftskrise der ganzen Welt. Die USA hätten nämlich ein wichtiges Systemelement außer Kraft gesetzt: Die Haftung. Darum sei die Krise keine vom System selbst ausgehende und vielleicht gar unvermeidbare, sondern eine durch die Verletzung der System-Spielregeln bedingte.
Franziska Drohsel entgegnete, daß eine Trennung zwischen guter Realwirtschaft und böser spekulativer Finanzwirtschaft nicht möglich sei. Es gebe auch nur einen Kapitalismus, wenn auch in sehr verschiedenen Formen, und allen Formen gemein seien:
a) die entstehenden Ungleichheiten und b) die Krisenanfälligkeit.
Anschließend erläuterte Robert Kurz, was Kapitalismus für ihn bedeutet: Eine irrationale Selbstzweckmaschine, die keine Naturgesetzlichkeit, sondern aus blinden historischen Prozessen entstanden sei. Er versuchte seine Krisentheorie darzustellen, was natürlich in der Kürze der Zeit schwierig war: Daß dem Kapital nämlich die Arbeit ausgehe, aufgrund der konkurrenzbedingten Rationalisierungen. Daß das Kapital andrerseits aber auf die Verwertung menschlicher Arbeit als Quelle der Wertschöpfung angewiesen sei. Angesichts dieses inneren Widerspruchs würde der Kapitalismus selbst seine "Entsubstantiierung" vorantreiben. Um noch Arbeitskraft rentabel verwerten zu können, seien immer höhere Investitionen erforderlich, die nur durch die Finanzblasenökonomie gedeckt werden konnten.
Luisa Boos äußerte sich zunächst vorsichtig: Die mangelnde Regulierung sei ein Problem. Auf Rückfrage wurde sie etwas mutiger - sie meine das ja nur als ersten Schritt. Weitere müßten folgen, schon angesichts der ökologischen Probleme.
Prof. Starbatty erläuterte nun seinen Standpunkt: Nein, nicht die Gier der Amerikaner habe er anprangern wollen. Gierig seien schließlich alle, er nannte Beispiele aus, nun ja, England und Irland (Gelächter im Publikum). Nicht die Gier also ist der Übeltäter, und selbst ein umfsssendes Regelwerk hätte die Krise nicht komplett verhindern können, sondern eben nur die konsequente Haftung.
Robert Kurz stellte nochmals klar, daß hier Ursache und Wirkung vertauscht werden würden. Sicher sei es richtig: Die Finanzblasenökonomie sei durch systemwidrige Maßnahmen erfolgt, quasi Sündenfälle des Kapitalismus. Aber was wäre die Alternative gewesen? Seiner Meinung nach gab es gar keine, außer daß die Realwirtschaft Anfang des Jahrtausends bereits an die Wand gefahren worden wäre! Wer also soll dann haften? Diejenigen, die den Kapitalismus künstlich ernährt und damit die Krise hinausgeschoben haben?
Für Kurz steht der Kapitalismus heute vor einem Dilemma. Es gebe nur noch zwei Alternativen: Ein strikter Kurs, der direkt in Massenverelendung führt, oder Geld reinpumpen (das man natürlich nicht hat), um damit in eine (Hyper)inflation zu schlittern (was letztlich natürlich auch ins Elend führt).
Die DDR (er war vom Moderator danach gefragt worden) sei kein Sozialismus gewesen, sondern eine Art Kapitalismus unter staatlicher Regie, was man schon daran sehe, daß sie am "Weltmarkt" gescheitert sei.
Luisa Boos griff die Aussage von Starbatty auf, wonach Gier normal sei und nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden müsse. Sie meinte, Gier sei gar nicht so sehr "naturgegeben", sondern eher eine Eigenschaft, die in kapitalistischen Gesellschaften hervorgekitzelt werde. Sie habe ein anderes Menschenbild als Starbatty: Der Mensch könne auch Leistung erbringen, ohne ständig unter Druck und Zwang zu stehen.
Starbatty konterte, sie habe im kleinen ja völlig recht, in kleinen Notfällen des Alltags sei fast jeder hilfsbereit. Aber mit unüberschaubaren unsicheren gesellschaftlichen Verhältnissen sei das nicht zu vergleichen.
Außerdem wolle er jetzt mal ein Land wissen, in dem ein alternatives (sozialistisches?) System erfolgreich praktiziert werde, und/oder ein Buch, in dem konkrete Vorschläge auf dem Weg dahin unterbreitet werden.
Robert Kurz schlug vor, es mit geschichtlicher Ironie zu versuchen: Jetzt wo viele Neoliberalen nach staatlicher Regulierung schreien, könnte die Linke doch umgekehrt (in Abkehr von ihrer Geschichte) eine autonome Massenbewegung ins Leben rufen. Diese solle zwar konkrete soziale Forderungen an den Staat richten (Erhöhung Hartz IV, Mindestlohn etc.), dabei aber nicht stehen bleiben und sich von fehlender Finanzierbarkeit nicht beeindrucken lassen. Man könne ja auch mal was Polizeiwidriges machen, Bahnhof besetzen und nicht lockerlassen, bis...
Der Begriff der autonomen Massenbewegung wurde von Starbatty zur Leerformel erklärt. Außerdem müßten die geforderten sozialen Wohltaten von späteren Generationen bezahlt werden (Starbatty hatte nicht begriffen, worum es Kurz eigentlich geht, der hatte nämlich ausdrücklich den transitorischen Charakter dieser Forderungen betont).
Franziska Drohsel versuchte einen Spagat, wie als Parteifunktionärin wohl unvermeidlich: Die Jusos würden einerseits staatsbezogenen Widerstand leisten, also innerhalb der politischen Institutionen, andrerseits zeigte sie sich autonomen darüber hinausgehenden Bewegungen gegenüber aufgeschlossen. Sie betonte allerdings, daß in der Geschichte der Versuch, irgendwelcheh tollen Konzepte umzusetzen, immer gescheitert sei, weshalb sich die Dinge über einen Bewußtseinswandel entwickeln müßten.
Herrn Starbatty, dem emeritierten Professor für Volkswirtschaft, blieb schließlich die Bemerkung vorbehalten, daß ihm niemand sein gewünschtes Land bzw. Buch habe nennen können :)
Andrerseits könnte man ihm entgegenhalten, daß zunächst er beweispflichtig gewesen wäre, nämlich für seine Behauptung, daß der Kapitalismus für und an sich durchaus weiter lebensfähig sei, also im Gegensatz zu Kurz´ Behauptung nicht an eine innere Grenze stoße.