Friday, May 29, 2009

Tübingen: Kapitalismus vor dem Aus?

Daten und Teilnehmer
Bei dieser Podiumsdiskussion am 26.5.2009 war ich also dabei. Der Hörsaal war mittelgroß, und während eine Viertelstunde vor Beginn noch nicht viel los war, reichten am Ende die Sitzplätze nicht aus.
Schon bei der Eingangsfrage, was denn Kapitalismus überhaupt sei, bliebt Prof. Starbatty nicht nur eine Antwort schuldig (er möge keine "Generalisierungen"), sondern verstieg sich auch nach wenigen Sätzen zur Feststellung, daß eigentlich nur die Amis an allem schuld seien. Von der Finanzkrise der USA zur Realwirtschaftskrise der ganzen Welt. Die USA hätten nämlich ein wichtiges Systemelement außer Kraft gesetzt: Die Haftung. Darum sei die Krise keine vom System selbst ausgehende und vielleicht gar unvermeidbare, sondern eine durch die Verletzung der System-Spielregeln bedingte.

Franziska Drohsel entgegnete, daß eine Trennung zwischen guter Realwirtschaft und böser spekulativer Finanzwirtschaft nicht möglich sei. Es gebe auch nur einen Kapitalismus, wenn auch in sehr verschiedenen Formen, und allen Formen gemein seien:
a) die entstehenden Ungleichheiten und b) die Krisenanfälligkeit.

Anschließend erläuterte Robert Kurz, was Kapitalismus für ihn bedeutet: Eine irrationale Selbstzweckmaschine, die keine Naturgesetzlichkeit, sondern aus blinden historischen Prozessen entstanden sei. Er versuchte seine Krisentheorie darzustellen, was natürlich in der Kürze der Zeit schwierig war: Daß dem Kapital nämlich die Arbeit ausgehe, aufgrund der konkurrenzbedingten Rationalisierungen. Daß das Kapital andrerseits aber auf die Verwertung menschlicher Arbeit als Quelle der Wertschöpfung angewiesen sei. Angesichts dieses inneren Widerspruchs würde der Kapitalismus selbst seine "Entsubstantiierung" vorantreiben. Um noch Arbeitskraft rentabel verwerten zu können, seien immer höhere Investitionen erforderlich, die nur durch die Finanzblasenökonomie gedeckt werden konnten.

Luisa Boos äußerte sich zunächst vorsichtig: Die mangelnde Regulierung sei ein Problem. Auf Rückfrage wurde sie etwas mutiger - sie meine das ja nur als ersten Schritt. Weitere müßten folgen, schon angesichts der ökologischen Probleme.

Prof. Starbatty erläuterte nun seinen Standpunkt: Nein, nicht die Gier der Amerikaner habe er anprangern wollen. Gierig seien schließlich alle, er nannte Beispiele aus, nun ja, England und Irland (Gelächter im Publikum). Nicht die Gier also ist der Übeltäter, und selbst ein umfsssendes Regelwerk hätte die Krise nicht komplett verhindern können, sondern eben nur die konsequente Haftung.

Robert Kurz stellte nochmals klar, daß hier Ursache und Wirkung vertauscht werden würden. Sicher sei es richtig: Die Finanzblasenökonomie sei durch systemwidrige Maßnahmen erfolgt, quasi Sündenfälle des Kapitalismus. Aber was wäre die Alternative gewesen? Seiner Meinung nach gab es gar keine, außer daß die Realwirtschaft Anfang des Jahrtausends bereits an die Wand gefahren worden wäre! Wer also soll dann haften? Diejenigen, die den Kapitalismus künstlich ernährt und damit die Krise hinausgeschoben haben?

Für Kurz steht der Kapitalismus heute vor einem Dilemma. Es gebe nur noch zwei Alternativen: Ein strikter Kurs, der direkt in Massenverelendung führt, oder Geld reinpumpen (das man natürlich nicht hat), um damit in eine (Hyper)inflation zu schlittern (was letztlich natürlich auch ins Elend führt).

Die DDR (er war vom Moderator danach gefragt worden) sei kein Sozialismus gewesen, sondern eine Art Kapitalismus unter staatlicher Regie, was man schon daran sehe, daß sie am "Weltmarkt" gescheitert sei.

Luisa Boos griff die Aussage von Starbatty auf, wonach Gier normal sei und nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden müsse. Sie meinte, Gier sei gar nicht so sehr "naturgegeben", sondern eher eine Eigenschaft, die in kapitalistischen Gesellschaften hervorgekitzelt werde. Sie habe ein anderes Menschenbild als Starbatty: Der Mensch könne auch Leistung erbringen, ohne ständig unter Druck und Zwang zu stehen.

Starbatty konterte, sie habe im kleinen ja völlig recht, in kleinen Notfällen des Alltags sei fast jeder hilfsbereit. Aber mit unüberschaubaren unsicheren gesellschaftlichen Verhältnissen sei das nicht zu vergleichen.

Außerdem wolle er jetzt mal ein Land wissen, in dem ein alternatives (sozialistisches?) System erfolgreich praktiziert werde, und/oder ein Buch, in dem konkrete Vorschläge auf dem Weg dahin unterbreitet werden.

Robert Kurz schlug vor, es mit geschichtlicher Ironie zu versuchen: Jetzt wo viele Neoliberalen nach staatlicher Regulierung schreien, könnte die Linke doch umgekehrt (in Abkehr von ihrer Geschichte) eine autonome Massenbewegung ins Leben rufen. Diese solle zwar konkrete soziale Forderungen an den Staat richten (Erhöhung Hartz IV, Mindestlohn etc.), dabei aber nicht stehen bleiben und sich von fehlender Finanzierbarkeit nicht beeindrucken lassen. Man könne ja auch mal was Polizeiwidriges machen, Bahnhof besetzen und nicht lockerlassen, bis...

Der Begriff der autonomen Massenbewegung wurde von Starbatty zur Leerformel erklärt. Außerdem müßten die geforderten sozialen Wohltaten von späteren Generationen bezahlt werden (Starbatty hatte nicht begriffen, worum es Kurz eigentlich geht, der hatte nämlich ausdrücklich den transitorischen Charakter dieser Forderungen betont).

Franziska Drohsel versuchte einen Spagat, wie als Parteifunktionärin wohl unvermeidlich: Die Jusos würden einerseits staatsbezogenen Widerstand leisten, also innerhalb der politischen Institutionen, andrerseits zeigte sie sich autonomen darüber hinausgehenden Bewegungen gegenüber aufgeschlossen. Sie betonte allerdings, daß in der Geschichte der Versuch, irgendwelcheh tollen Konzepte umzusetzen, immer gescheitert sei, weshalb sich die Dinge über einen Bewußtseinswandel entwickeln müßten.

Herrn Starbatty, dem emeritierten Professor für Volkswirtschaft, blieb schließlich die Bemerkung vorbehalten, daß ihm niemand sein gewünschtes Land bzw. Buch habe nennen können :)
Andrerseits könnte man ihm entgegenhalten, daß zunächst er beweispflichtig gewesen wäre, nämlich für seine Behauptung, daß der Kapitalismus für und an sich durchaus weiter lebensfähig sei, also im Gegensatz zu Kurz´ Behauptung nicht an eine innere Grenze stoße.

Wednesday, May 20, 2009

Hinter uns die Geschichte, vor uns Gott

"Masken" - H.E. Wenzel vertont Gedichte von Christoph Hein
reinhören

Im Titel "Erinnern" finden sich folgende bemerkenswerte Zeilen:

Der Mensch schuf sich die Götter,
um mit der Unerträglichkeit des Todes
leben zu können,
und er schuf sich die Fiktion der Geschichte,
um dem Verlust der Zeit
einen Sinn zu geben.

Hinter uns die Geschichte,
vor uns Gott,
das ist das Korsett,
das uns den aufrechten Gang erlaubt.
(Christoph Hein)

Saturday, May 09, 2009

Biologie und Geschlecht

Abschließend zum Geschlechterthema einige Zitate von Eva-Maria Schnurr, mit Anmerkungen von mir. Der zitierte Artikel heißt "Typisch Mädchen, typisch Junge" und ist im Sammelband "Das F-Wort - Feminismus ist sexy" enthalten. Tja, was ich nicht so alles lese.

"Kann sogar sein, daß Franzosen besonders charmant sind und Anschläge derzeit vor allem islamischen Tätern anzulasten sind. Niemand jedoch käme auf die Idee, dafür biologische Ursachen zu vermuten. Die Kultur! Die Tradition! Die soziale Situation! Die Weltpolitik! Es gibt tausend Gründe, warum Menschen so sind wie sie sind, so handeln wie sie handeln. Doch wenn es darum geht, Verhalten oder Eigenschaften von Männern oder Frauen zu erklären, gibt es nur eine Deutung: Die Biologie.
Die Biologie ist schuld, daß Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können, ist dafür verantwortlich, daß Kerle gut in Mathe sind und daß Frauen gemeinsam auf die Toilette gehen - letzteres behauptet zumindest die amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine in ihrem Buch "Das weibliche Gehirn". Aus allen kollektiven Bindungen haben wir uns im vergangenen Jahrhundert befreit: Religion, Nationalität, politisches Milieu. Familienform oder Lebensentwurf - alles ist heute frei wählbar, die Entscheidung jedes Einzelnen. Aber beim Geschlecht hört die Individualität auf, fängt das Regime der Biologie an."

(Anmerkung: Allerdings sind auch die genannten Freiheiten außerhalb der Geschlechterrollen eher marginal angesichts der Zwänge der kapitalistischen Konkurrenz)

"Die Vorstellung ist in vielen Köpfen fest verankert, es gebe eine Art biologisches Betriebssystem - bei dem einen Mensch XX, bei dem anderen Mensch XY -, das vom ersten Lebenstag an unser Handeln, Denken und Fühlen bestimmt.
Aber die Idee ist falsch. Möglich, daß es ein paar Anlagen gibt, mit denen man, zartblau oder zartrosa, auf die Welt kommt. [...] Aber die schönste Veranlagung nützt nichts, wird sie nicht gefördert."

(Anmerkung: Interessant könnte in diesem Zusammenhang auch die Theorie vom Menschen als "biologischem Mängelwesen" sein. Kultur wird hier teilweise als Kompensation der mangelhaften menschlichen Natur bei der Geburt aufgefaßt. Wie auch immer - ich kenne die Theorie nicht näher -, ich stimme ausnahmsweise mal einer herrschenden Auffassung zu, nämlich daß beim Menschen Natur und Kultur untrennbar ineinanderfließen. "Reine Natur" gibt es nicht. Herders berühmter Spruch: "Der Mensch ist der erste Freigelassene der Natur", hat sicher auch etwas Illusionäres, enthält aber m.E. durchaus einen richtigen Grundgedanken dahingehend, daß der Mensch seine Anlagen flexibel nutzen kann)

(Vorweg-Anmerkung: Eltern sagen zuweilen: "Ich habe alle Kinder völlig gleich erzogen, trotzdem zeigen sich klare Unterschiede zwischen den Geschlechtern". Das ist natürlich naiv: ]
Eltern und Umwelt vermitteln schon vom ersten Lebenstag an Geschlechterrollen, das zeigen sog. "Baby-X-Versuche". Konfrontiert man Erwachsene mit einem neutral gekleideten Baby, behandeln sie das Kind anders, je nachdem, ob ihnen gesagt wurde, daß es sich um einen Jungen oder Mädchen handelt. [...] Und wenn die Eltern noch so geschlechtsneutral erziehen - dann machen eben Freunde, Verwandte oder die Verkäuferin an der Wursttheke oder der Nachbar klar, was erwartet wird. {...] >>Wir lernen uns in unsere Geschlechterrollen hinein<<, formuliert es der Neurobiologe Lutz Jäncke, der an der Universität Zürich forscht.

In populären Büchern steht es anders. Vom "Steinzeithirn" ist da die Rede, das uns bis heute regiere und Männer zu stummen Jägern und Frauen zu quasselnden Hausfrauen mache [...] und immer wieder von der >>Natur<< und den ganz natürlichen Erklärungen für die eigenen Stärken und Schwächen. Das soll so klingen, als habe es die Unterschiede schon immer gegeben, als sei die Aufteilung der Welt in zwei verschiedene Geschlechter mit jeweils völlig verschiedenen Eigenschaften so alt wie die Menschheit selbst. Was gelogen ist. Sie ist gerade mal 200 Jahre alt. Es war das aufstrebende Bürgertum in der Zeit der Französischen Revolution, das "Natur" zum Maßstab aller Dinge verklärte und auf die Suche nach der "natürlichen Bestimmung" von Mann und Frau ging.

(Anmerkung: Die Autorin führt dazu aus, daß vorher die Frau als unvollkommener Mann galt. Es könnte etwas überraschen, daß sie die strikte Zweiteilung nicht wenigstens als Fortschritt betrachtet. Aber bei diesem Fortschritt kommen natürlich sehr gemische Gefühle auf, denn fündig bei der "Natursuche" wurde man bei der bürgerlichen Kleinfamilie, mit dem Mann als strebsam und erfolgreichen Berufstätigen, und der Frau als passiver Mutter und Ehefrau, also das Modell, an dem wir bis heute noch mehr oder weniger herumlaborieren)

"Gleichzeitig machten sich die aufstrebenden Naturwissenschaften daran, Unterschiede in Körpern, Gehirnen und Verhalten zu finden: Sie maßen, zählten, beobachteten und sortierten. Und etliche Forscher tun das bis heute.
Nicht daß sie nichts finden würden! Fast täglich dröhnen neue Befunde über die medialen Lautsprecher. Männer denken systematischer, Frauen emotionaler, Männer wollen Sex, Frauen eine Beziehung, Männer raufen, Frauen reden.
Aber inzwischen weiß man: Gene, Gehirne und Hormone sind keine Computerprogramme, die, einmal angeworfen, unbeirrbar ihre Algorithmen abarbeiten. Sie stehen in ständigem Kontakt mit der Umwelt - und verändern sich dadurch. [...]
Es gibt keine vorgefertigen Computerprogramme >>Mädchen<< oder >>Junge<<. Wie sonst ist es erklärbar, daß es Kulturen gab und gibt, die drei oder mehr Geschlechter unterscheiden?"

(Anmerkung: ´Mehr als zwei Geschlechter´ ist also keine neuere Idee, wie ich neulich glaubte. In der Biologie allerdings vielleicht schon...)
"Verhalten und Denkmuster werden zum allergrößten Teil gelernt. Weil Lernen aber die Nervenverbindungen im Gehirn verändert, können Vorurteile durchaus biologische Folgen haben. [...]
Was in den unzähligen Behauptungen über die angeblich so großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen meist verschwiegen wird: Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter [...] sind weitaus größer als die zwischen den Geschlechtern [...]. Anders gesagt: Männer und Frauen haben viel mehr gemeinsam als sie trennt."


"Jahrelang spukte die Behauptung durch die Welt, die Hirnhälften von Frauen seien besser vernetzt als die von Männern, was dann dazu führe, daß Frauen mehrere Dinge gleichzeitig können, Männer aber schlecht im Multitasking sind. Stimmt aber nicht. Nachmessungen zeigten: Nicht das Geschlecht, sondern die Hirngröße macht den Unterschied. Kleine Männerhirne sind genauso gut verkabelt wie kleine Frauenhirne. Große Frauenhirne genauso schlecht wie große Männerhirne. Und die Sache mit dem Multitasking hat noch niemand richtig untersucht."


"Unglück, Desillusion, Verwirrung - das kündigen Allan und Barbara Pease jedem an, der nicht an die unterschiedlichen Geschlechtsprogramme glauben mag. Doch das Gegenteil trifft die Sache eher. [...] College-Schülerinnen, überdurchschnittlich gut in Mathe, lösten schwierige Rechenaufgaben schlechter, wenn ihnen ihnen vorher sagt, ihre Ergebnisse würden mit denen von Männern verglichen."


"Die biologische Bestimmung ist zur scheinbar letzten Wahrheit geworden in einer Welt, in der die meisten anderen Überzeugungen keinen Halt mehr finden - eine Ersatzreligion für Menschen, die von sich selbst nicht selten behaupten, jeder Metaphysik abhold zu sein. [...]>>Die Gegensätze zwischen Männern und Frauen sind gewaltig. Wir sollten lernen damit zu leben<<, überschrieb kürzlich ein deutsches Wissenschaftsmagazin einen Artikel. Nur: Warum? Wem ist geholfen, wenn man als naturgegeben hinnimmt, daß Männer nunmal risikofreudiger, Frauen dagegen - um mal ein nettes Vorurteil nehmen - intellektuell leistungsfähiger sind? [...]
Es geht nicht um Gleichmacherei, nicht um die Leugnung von Unterschieden. Im Gegenteil: Es geht um Freiheit. Nicht >>Männer>> und >>Frauen<< sind grundverschieden, sondern zum Glück: Jeder Mensch ist anders. Nicht jeder muß einparken lernen. [...] Nicht einparken zu können ist das Gleiche wie Gartenzwerge vor der eigenen Haustür aufzustellen. Das Gleiche, wie Bomben zu legen. Kein biologischer Zwang. Eine Entscheidung."

Tuesday, May 05, 2009

Evolution und die Geschlechter (Roughgarden 2)

Angenehm an Roughgarden ist, daß sie bei einigen wilden Geschichten (die sie wie alle diese Evolutionsbiologen parat hat), immer große Vorsicht walten läßt und keine ihrer Theorien als finale Wahrheit verkauft. Wie z.B. bei jenen zwei Typen Männchen in einer bestimmten Tierart, wo das kleine an abgelegenen Orten "tätig" ist, und vom Typ "großes Männchen", das sich als eine Art Heiratsvermittler betätigt, zuweilen zu den Weibchen geführt und diesen vorgestellt wird. Immerhin eine süße Story, die aber schon deutlich macht, daß auch im Tierreich die Verhältnisse oft komplex sein können, komplexer als sie scheinen.

Kommen wir zu den 26 Punkten, anhand derer R. die Unterschiede zwischen der sexuellen Selektionstheorie (des Darwinismus) und ihrer eigenen Theorie der sozialen oder "Gruppen"-Selektion festmacht. Ich beschränke mich natürlich auf einige wenige davon (ich lasse auch diejenigen weitgehend weg, die in Teil 1 schon erwähnt wurden).

Zunächst scheine ich richtig gelegen zu haben, was die Erklärung weiblicher Polygamie betrifft; es handelt sich laut R. nicht wirklich um eine solche, sondern sie spricht von "economic monogamy". Diese würde in Situationen auftauchen, wo die Aufzucht der Nachkommen am effizientesten in männlich-weiblichen Teams bewerkstelligt würde, anstatt von einzelnen Paaren. (Andere Biologen würden diese Fälle wohl als totale Polygamie beider Geschlechter betrachten?!)

Interessant die Hermaphroditen, die Männlein und Weiblein in einem sind. Bei den Pflanzen weitverbreitet, umfassen sie im Tierreich zwar nur 6%; allerdings, wenn man die vielen Spinnenarten rausrechnet (die keine Hermaphroditen sind), erhöht sich der Anteil auf ein beachtliches Drittel. Auch hier dreht R. den Spieß um: Anders als in der herkömmlichen Evolutionslehre hätten sich diese Lebewesen, die man ja als "Paare in einem Individuum" bezeichnen könnte, nicht erst spät in der Evolution entwickelt, sondern seien der Ausgangspunkt für die spätere Trennung der Geschlechter gewesen. Klingt einleuchtend (im Rahmen der Evolutionstheorie). Also zuerst asexuelle Fortpflanzung, dann beide Geschlechter in einem, dann beide Geschlechter getrennt als Paar, dann (zuweilen) "Paarteams" (u. männliche Promiskuität, wie gesagt, als letzte Zuflucht in bestimmten Phasen/Umständen).

Einflüsse auf Verhaltensweisen (behavior): Die sexuelle Selektionstheorie betrachtet Verhaltensweisen als genetische Prozesse auf einer "zwischen-Generationen"-Zeitskala. Die soziale Selektionstheorie betrachtet Verhaltensweisen als Folge von Entwicklungsschritten auf einer "innerhalb-einer-Generation"-Zeitskala. Beide stimmen überein, daß Verhalten auf Evolution beruht, aber während der sexuellen Selektionstheorie zufolge die Evolution direkt das soziale Verhalten steuert, betrachtet die soziale Selektionstheorie das soziale Verhalten als eine sich erst entwickelnde Neubildung aus bereits "evolvierten Ergebnissen" (?) ("evolved payoffs"). Schwierig, auch sprachlich, ich muß das entsprechende Kapitel noch genau lesen, weil es hier um einen Knackpunkt geht.

Männliche Gen-Qualität: Nach herkömmlicher Lehre gibt es bei Männchen eine nach genetischer Qualität gestaffelte Hierarchie. Nach sozialer Selektionstheorie gibt es eine solche Hierarchie nicht. Mit Ausnahme offensichtlicher "Defekte" (Mutationen) haben alle Männchen die gleiche genetische Qualität. Wenn kranke Männchen (oder vllt. auch Weibchen) nicht als Partner genommen werden, liegt es daran, daß sie ihre elterlichen "Pflichten" voraussichtlich nicht erfüllen können (auch ein krankes oder verletztes Tier kann genetisch völlig intakt sein).

Homosexualität: Nach herkömmlicher Lehre eher ein Ausrutscher, gibt verschiedene Theorien dazu. Nach sozialer Selektionstheorie ist Homosexualität natürlich und kann von beiden Geschlechtern und allen Beteiligten angenommen werden. Homosexualität ist häufig eine Art Bindemittel, wenn Teamarbeit gefragt ist. Bei einigen Affenarten geben Weibchen, wenn sie die Wahl haben, einem anderen Weibchen den Vorzug vor dem Männchen. Auch wenn es in einem "Team" zuwenige Männchen für irgendwelche Aufgaben gibt, sollen Weibchen verstärkt auf die sexuelle Verbindung untereinander zurückgreifen.

Sexueller Rollentausch: Nach herkömmlicher Lehre eine Ausnahme, die auftritt, wenn das Männchen das höhere elterliche Investment erbringt. Für R. steht diese Erklärung allerdings im Widerspruch zur traditionellen Prämisse, daß Männchen immer das kleinere Investment erbringen, da Spermien kleiner als Eier seien. Nach sozialer Selektionslehre ist der Tausch der Geschlechterrollen unproblematisch, da diese in der jeweiligen lokalen ökologischen Situation ohnehin immer verhandelt werden. Männchen haben im Sinne ihres Fortpflanzungserfolgs ein Interesse an der Sicherung der Eier, und können eben in bestimmten ökologischen und anderen Zusammenhängen in die Lage kommen, das höhere elterliche Investment zu leisten (bei Säugetieren also sicher ausgeschlossen).

Kommen wir zum Menschen. Huch, das sind ja wir :)

R. schreibt neben anstrengenden biologischen Ausführungen, die natürlich nicht zu vermeiden sind, doch auch (wo es möglich ist) recht lustig und pointiert. Z.B. zur Frage des menschlichen Gehirns:
Gemäß der sexuellen Selektionstheorie ist das menschliche Gehirn ein sekundäres Geschlechtsmerkmal, quasi das Gegenstück zum Pfauenschwanz, also ein Ornament um Frauen anzuziehen. "Das Problem besteht darin zu erklären, warum Frauen dann auch Gehirne haben" :) Die klassische Erklärung lautet natürlich, daß Frauen deshalb auch ein Gehirn haben, damit sie die männlichen Gehirne überhaupt würdigen können ;)
Nach der sozialen Selektionstheorie ist das Gehirn ein Werkzeug, um an der sozialen Infrastruktur teilnehmen zu können, in welcher die Kinder aufgezogen werden, und für eine erfolgreiche Aufzucht ist das Gehirn bei Männern und Frauen gleichermaßen notwendig.

Menschliche Attraktivität: Nach der sexuellen Selektionstheorie finden Frauen gutaussehende Männer anziehend, deren Merkmale auf gute genetische Qualität hinweisen. Männer seien natürlicherweise untreu (und wenig wählerisch). Nach der sozialen Selektionstheorie wählen Männer und Frauen einander gleichermaßen unter den Kriterien Kompatibilität der Lebensumstände, Charakter und Neigung, die einer effizienten Kinderaufzucht im Kontext einer menschlichen sozialen Infrastruktur zugrundeliegen.

Insgesamt klingt vieles wenig spektakulär, sondern ganz normal :)
Nur, von Evolutionsbiologen hört man Normales ja relativ selten...

Ich bin nicht von "allem" überzeugt, schätze aber die Vernunft, die man, ich sag´s nochmal, sonst in dieser Branche eher vergebens sucht. Als nächstes werde ich eine Feministin zu Wort kommen lassen, die wieder mehr die gesellschaftlichen Kräfte betont, was ich für richtig halte. Ganz egal wie Biologie tatsächlich ist, kann sie kein Modell für Gesellschaft sein. ABER: Man sollte aber schon auch (wie es R. tut) denjenigen Meinungen Paroli bieten, die falsche gesellschaftliche Entwicklungen in die Natur "hineinlegen", um sie dann wieder herausholen und als "natürlich" anzupreisen. Was einige Neo-Darwinisten vertreten, hat mit Natur nichts zu tun, sondern entspringt dem verdrehten Bewußtsein unserer "Negativ-Vergesellschaftung" (Robert Kurz), also Konkurrenz und Auslese um jeden Preis.

Saturday, May 02, 2009

Evolution und die Geschlechter (Roughgarden 1)

Ich habe micn nun noch etwas mit den Hypothesen von Prof. Joan Roughgarden (künftig: R.) beschäftigt, u.a. ihr brandneues Buch "Genial Gene" in Angriff genommen. Sie attackiert die Theorie der sexuellen Selektion, die sie durch den Begriff der "social selection" ersetzt. Umgangssprachlich könnte man den Begriff "sexual selection" zwar durchaus bestehen lassen (meine Meinung), da ja eine Auswahl bei der Fortpflanzung, beim Sex, getroffen wird, aber als Auswahlmechanismus im Rahmen der Evolutionstheorie kann er keinen Bestand haben, wenn R. richtig liegt. Eine fortpflanzungsmäßige Entscheidung zu treffen heißt nach R. NICHT, (instinktiv) "gute Gene" auszuwählen. Sondern es geht für das Weibchen/die Frau um das Erkennen eines "guten Vaters" (konkretes Verhalten versus abstrakte genetische Überlegenheit). Die grundsätzliche Richtigkeit der herkömmlichen "female choice" Theorie wird von R. nicht bestritten, da die weibliche Seite schon aufgrund der Schwangerschaft regelmäßig das größere Investment hat. Es gibt aber viele Modifizierungen und auch mal Rollentausch, dazu unten mehr.

Warum keine genetische sexuelle Selektion?
Sie argumentiert: Wenn es mal schlechte Gene gegeben hat/hätte, wären sie von den Weibchen in wenigen Generationen ausgerottet worden - von da an wären weitere Selektionsversuche dann sinnlos gewesen. Gestützt wird diese Auffassung mit etlichen Studien zur "Fitness" der Nachkommen von verschiedenen Vätern. Wenn ein Männchen lebt und sich paaren kann, warum sollte es dann Nachkommen hervorbringen, die eben diese Fähigkeiten nicht haben? Ich denke, daß diese Argumentation durchaus auch auf die "natürliche Auslese" angewandt werden kann. Diese gibt es natürlich, aber vermutlich doch nur im Rahmen einer Anpassung an veränderte Lebensbedingungen (dazu habe ich schon Tests gesehen: Wenn man die Umgebung künstlich verändert, so daß die Tarnung gegen Raubtiere nicht mehr greift, verändert das Beutetier sehr schnell seine Farbe, oder die Population geht eben unter). Aber: Eine ständige Auslese des Besseren, Allerbesten, höher, weiter, schneller, sind eher Merkmale des Kapitalismus, die man auf die Biologie übertragen hat (sage ich, nicht R.).

Üblicherweise wird gesagt, daß Männchen ursprünglich so gemacht seien, ihr Erbgut möglichst weit zu streuen, also total polygam, wenngleich mit sehr unterschiedlichem Erfolg (female choice der "besten Gene"). Im Laufe der Evolution habe sich dann bei einigen Arten eine gewisse Paarbindung entwickelt (bei vielen Vögeln und Menschen z.B.).

R. sieht das genau anders herum, was vermutlich revolutionär ist! Nebenbei wird dabei auch das Problem gelöst, das ich im letzten Evolutionseintrag angesprochen habe, nämlich wofür die vielen Männchen eigentlich gut sind (zumindest vor der Paarbindungstendenz). Sie betrachtet männliche Monogamie und männliche elterliche Fürsorge als Normalfall und Ausgangspunkt der Zweigeschlechtlichkeit. Männliche Untreue habe (rein biologisch gesehen natürlich) nur bei Säugetieren eine Bedeutung, weil das Männchen hier, anders als bei den Vögeln, während der Schwangerschaft und teilweise auch anschließend (Säugen) von einer Beteiligung ausgeschlossen wird. Es kann in dieser Zeit also nichts weiter zum Fortpflanzungserfolg beigetragen (und ist in dieser speziellen Situation tatsächlich rein fortpflanzungstechnisch gesehen mehr oder weniger überflüssig), und ist daher gezwungen (um seinen Fortpflanzungserfolg zu optimieren), auf dem "freien Markt" seine Chance zu suchen.

Letztgenannter Aspekt spielt allerdings eine umso geringere Rolle, je länger die Kinderaufzucht dauert und je länger die Lebenserwartung des Säugetiers ist. Beim Menschen mit seiner vergleichsweise langen Lebenserwartung und langer kindlichen Entwicklungszeit (und ich würde hinzufügen, der emotionalen menschlichen Beziehung, "Liebe"...) sind also "eingeschränkte Monogamie" und gemeinsame Kinderbetreuung als biologischer Normalfall anzusehen.

Die nicht selten zu beobachtenden weibliche Polygamie scheint allerdings zunächst weder in dieses Bild noch ins herkömmliche Bild des sehr wählerischen und treuen Weibchens zu passen. Nach der sexuellen Selektionstheorie gibt es durch die female choice bei den (angeblich polygamen) Männchen, je nach "Genqualität", ausgeprägte Gewinner (Begattung vieler Weibchen, ohne selbst in Schwangerschaft und Nachwuchsaufzucht zu investieren)und ausgeprägte Verlierer (die trotz vieler Bemühungen nur wenige oder keine Weibchen begatten). Populärwissenschaftliche Weisheit: Nur der Beste darf :)

Letzteres ist schon seit längerem mehr oder weniger überholt. Es gibt zuviele Studien, die zeigen, daß Weibchen oftmals sehr wenig wählerisch sind.
Eine andere Biologin, Meredith Small, schrieb schon vor 15 Jahren (Übersetzung von mir):
Es war ganz klar, daß Berberäffinnen entscheiden, mit wem sie sich paaren und wann; sie sind perfekte Beispiele für das sexuell selbstbewußte Primatenweibchen. Am Ende der Paarungszeit allerdings, 506 Kopulationen später, blieb ich etwas ratlos mit der Weisheit von der "female choice" zurück. Ja, diese Weibchen treffen eine Wahl, aber sie schienen jedes Männchen in der Gruppe zu wählen, eines nach dem anderen. [...]
An jenem Tag, als ich beobachtete, wie eine Berberäffin sich innerhalb von sechs Minuten mit drei verschiedenen Männchen paarte, wußte ich, daß ich das gängige Modell von "female choice" neu zu bewerten hatte.

(Small berichtet auch von anderen Affenarten, daß Weibchen 70% aller Annäherungsversuche machen, aber zu 40% sogar abgewiesen werden: Sie betont, daß female choice immer nur mit "male interaction" stattfindet.)
Ich habe noch nicht gefunden, wie R. das erklärt, aber aus der Gesamtdarstellung würde ich schließen, daß sie von der Erweiterung der Zweierbeziehung auf eine Gruppenbeziehung o.ä. ausgehen würde. Die Gruppe spielt bei ihr ja immer eine wichtige Rolle. Die Geschlechterbeziehungen werden immer "verhandelt" im Hinblick auf die Fortpflanzungsart, die natürliche Umgebung und die Gruppenbeziehungen der jeweiligen Tierart. Der Text wird zu lang, ich verschiebe die Zusammenfassung von Roughgardens Erkenntnissen auf den nächsten Eintrag. Bis dann.

Friday, May 01, 2009

1. Mai - Tag der Arbeit. Arbeit ???

Der Arbeitsbegriff war ja hier schon ein Thema. Anläßlich des "Tags der Arbeit" ein Text von Franz Schandl aus dem Jahr 1999, der sich eingehend mit dem Wesen und Verwesen *g* der "Arbeit" befasst.
Vom Verwesen der Arbeit