Dennoch möchte ich auf ein Wort meines Kollegen Rilke verweisen: "Armut ist ein großer Glanz von innen!” (Ein Glanz, der seine größte Intensität in den Augen afrikanischer Kinder im letzten Stadium des Verhungerns erreicht.) (Hannes Wader)
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte in Deutschland (und weiten Teilen Europas) eine unglaubliche Massenarmut. Als Ursache wird vom Mainstream hauptsächlich Überbevölkerung angegeben: Die Bevölkerung sei schneller gewachsen als die Nahrungsmittelproduktion. Von linker Seite wird demgegenüber geltend gemacht, die kapitalistische Industrialisierung sei schuld.
Christian Mielenz untersucht in
EXIT! 5 das Phänomen mit Hilfe einer Fülle von Daten und Statistiken und kommt zu folgendem Schluß:
Eine "Überbevölkerung" hat es im 19. Jahrhundert in Deutschland nach dem bisher Gesagten und Gezeigten offenbar nicht gegeben. Die malthusianische Theorie [Überbevölkerung] läßt sich empirisch nicht verifizieren. Aber auch die im ersten Kapital nur kurz erwähnte Erklärung des Pauperismus [Massenarmut jener Zeit] aus der Industrialisierung kann, zumindest in ihrer kruden unmittelbaren Formulierung, nicht verteidigt werden. Die Industrialisierung in Deutschland setzt tatsächlich erst ab etwa 1850 ein, also nach dem eigentlichen Pauperismus.
[...]
Der Pauperismus war offenbar weniger eine existenzielle (im Sinne naturhafter Gegebenheiten oder begrenzter technischer Möglichkeiten), sondern vielmehr eine ökonomische Krise. Dass überwiegend lohnabhängige (bzw. im Übergang zur Lohnabhängigkeit begriffene) Menschen von der Massenarmut betroffen waren, läßt nach dem bisher Gesagten darauf schließen, dass sie aufgrund der Preissteigerungen, nicht aber aufgrund tatsächlicher Nahrungsmittelknappheit verarmten [Eigene Anm.: Also in der Tendenz wie heute]. Denn obwohl der Nahrungsmittelspielraum im frühen 19. Jahrhundert schneller wuchs als die Bevölkerung Deutschlands, stiegen die Agrarpreise und fielen die Reallöhne. Wie läßt sich das erklären?
[...] Dazu zitiert Mielenz Lieselotte Dilcher:
"Im Rahmen der sogenannten Regulierung, die 1816 in Preußen geregelt wurde, und der Ablösung der Reallasten, konnten spannfähige Lass- und Pachtbauern zu Eigentümern ihres Besitzes werden, sofern sie bereit waren, den bisherigen Eigentümer des Landes für den Wegfall der Hand- und Spanndienste zu entschädigen, die sie bis dahin geleistet hatten. Die Summe der Beiträge, die die freiwerdenden Bauern im alten Preussen zu bezahlen hatten, wurde auf 260 Millionen Mark berechnet. Außerdem hatten diese Bauern vom erblichen Besitz ein Drittel, von nicht erblichem Besitz die Hälfte an den Gutsherrn abzutreten. Die nichtspannfähigen Kleinbauern dagegen mussten weiterhin Handdienste leisten und wurden, da der Bauernschutz aufgehoben war, in großer Zahl ihres nicht erblichen Besitzes enthoben und somit zu land- und besitzlosen Tagelöhnern".
(Dilcher: Der deutsche Pauperismus und seine Literatur, FFM 1957)
Mielenz beantwortet daher die Frage nach dem Grund für die steigenden Preise und sinkenden Löhne wie folgt:
Die Expropriation der Bauern, wie Dilcher sie nennt, vollzog sich in weiten Teilen Deutschlands: Schlesien, Preußen, Vorpommern, Mecklenburg. Viele Bauern verschuldeten sich durch die hohen Ablösesummen oder gerieten sogar in Konkurs, woraufhin sie ihr Land verkaufen mussten (wenn sie nicht vorher bereits durch die Landabgaben in die Landarmut geraten waren). Auch die Aufhebung der gemeinen Nutzungsrechte der Allmenden durch das Gesetz über die Gemeinheitsteilungen im Juli 1821 in Preußen ließ die Realeinkommen der unteren sozialen Schichten einbrechen. Dadurch waren immer mehr Angehörige der Unterschichten gezwungen, sich Lohnarbeit als zusätzliche Erwerbsquelle zu suchen. Es war diese zunehmende Abhängigkeit von den Märkten - und damit auch von Lohneinkommen und Preisentwicklungen - ,welche die Unterschichten armutsanfällig für die Teuerungskrisen machte, die ihrerseits nicht auf mangelnde Produktionskapazitäten ("Nahrungsmittelspielraum") zurückzuführen waren, sondern auf die zunehmende "Inwertsetzung" (Monetarisierung, Einbindung in Marktprozesse) der Nahrungsmittelproduktion.
Gerade diese Transformation der weitgehend "Subsistenzabhängigen" in Lohnabhängige bewirkte eine Pauperisierung der Massen. Man kann den Pauperismus daher zutreffend als "Transformationskrise" bezeichnen. Sie entstammte aber nicht den "alten" feudalen Zuständen, sondern gerade umgekehrt der sich im 19. Jahrhundert herausbildenden marktwirtschaftlichen Gesellschaft. Die Preis-Lohn-Schere war nicht die Folge eines absoluten Bevölkerungsanstiegs, sondern eines Anstiegs der lohnabhängigen Bevölkerung bzw. die Folge der Transformation von subsistenzabhängigen Bauern in Lohnabhängige.