Thursday, November 20, 2008

Schäuble, Sozialismus, Marktwirtschaft

"Der Sozialismus ist ja in sich eine durchaus nachvollziehbare Idee. Er passt nur offenbar nicht zu den Menschen." (Wolfgang Schäuble, Stern 20.11.2008)

Mein Ansatzpunkt ist eigentlich gerade anders herum: Die Marktwirtschaft ist für mich ein durchaus nachvollziehbares System, das auch in bestimmter Weise fair erscheint, weil (rein theoretisch natürlich) für alle die gleichen Regeln gelten. Es funktioniert auch eine Weile in der Praxis, mehr oder weniger. Aufgrund des Wachstumszwanges, des Auslesedrucks, des Ressourcenverbrauchs, sowie der sich immer mehr zuspitzenden inneren Widersprüche des Kapitalismus (und Marktwirtschaft und Kapitalismus sind nicht zu trennen, Herr Gesell!) fordert die Marktwirtschaft aber immer mehr Opfer von Mensch und Natur, und kann daher nicht, wie von manchen gedacht, als dauerhaftes (geldliches) Austauschmodell taugen.

Wednesday, November 19, 2008

José Raúl Capablanca (Geburtstag)

Vor genau 120 Jahren wurde der langjährige Schachweltmeister José Raúl Capablanca (Kuba) geboren.

http://www.chess-theory.com/images1/71614_modern_chess.jpg

Capablanca war wohl ein charmanter Mensch (im übrigen galt er auch als großer Frauenheld), der sich allerdings nicht gerade in Bescheidenheit übte:

"Ich verstehe mehr vom Schach als irgendein andere lebender Meister. Ich könnte gegen die 30 stärksten Spieler der der Vereinigten Staaten simultan spielen, ohne eine Partie zu verlieren. Wenn ich einen Klub besuche, sind die Spieler stumm vor Staunen und müssen ihre Meinung über die Schachmeister revidieren."
"Ich brauche nur einen Blick auf das Schachbrett zu werfen, und weiß schon, was in der Stellung steckt, was geschehen kann und was geschehen wird. Alle übrigen suchen und prüfen, ich aber weiß es!"
Euwe, Prins: Capablanca, Hamburg 1979

Eine vielleicht nicht ganz typische Partie aus seinen jungen Jahren:
http://de.wikipedia.org/wiki/Capablanca_%E2%80%93_Bernstein,_San_Sebasti%C3%A1n_1911

Es wird gesagt (ich hab´s nicht überprüft), daß er in den Jahren 1914 - 1927 (einer Zeit, in der er sehr aktiv war), nur 5 Turnierpartien verlor. Der vielleicht etwas weniger talentierte, aber ungeheuer ehrgeizige und kämpferisch eingestellte Aljechin besiegte ihn allerdings im Jahr 1927 und wurde dadurch Weltmeister. Aljechin soll danach einem Rückkampf ausgewichen sein. In seinem Nachlaß fand man jedoch ein Werk über Capablanca, in dem er diesen - einige Jahre zuvor Verstorbenen - wie folgt würdigte:

Capablanca was snatched from the chess world much too soon. With his death, we have lost a very great chess genius whose like we shall never see again.

Friday, November 07, 2008

Der Mann von nebenan

Der ist´s der in der Klammer steht,
damit dann deine Rechnung aufgeht.
F.J. Degenhardt

Tuesday, November 04, 2008

Zusammenbruch des Kapitalismus - ja oder nein?

Claus Peter Ortlieb verteidigt hier die Theorie des kapitalistischen Zusammenbruchs, die von EXIT! (dieser Gruppe gehört er an) und Krisis (dieser Gruppe gehörte er vor der Abspaltung von EXIT! an) vertreten wird, gegen Einwände vor allem von Michael Heinrich. Er kommt zum Fazit:

Prognosen über die Verlaufsform des Niedergangs wären daher auf der Basis der hier durchgeführten Untersuchungen reine Spekulation, doch von einem Ende – so oder so – des Kapitalismus als Gesellschaftsformation sollte schon gesprochen werden, in anderem Sinne allerdings, als Heinrich (1999: 178) in Bezug auf die „Kurzsche Zusammenbruchstheorie“ meint:

„Für die Linke hatte die Zusammenbruchstheorie historisch immer eine Entlastungsfunktion: Egal wie schlimm die aktuellen Niederlagen auch waren, das Ende des Gegners war letztlich doch gewiss.“

Auch darin hat er unrecht. Es geht nicht um das Ende eines „Gegners“, sondern um unser eigenes. Der absehbare Niedergang einer Gesellschaftsform – ob nun als langsames Siechtum oder großer Knall –, deren über den Warenfetisch an sie gebundene Mitglieder gar nicht wissen, was ihnen geschieht, den wertförmigen Reichtum für natürlich halten und daher auch nach seinem Ende bestenfalls als Warensubjekte ohne Waren dahinvegetieren könnten, wäre bloß eine weitere, letzte Niederlage. Und umgekehrt: Nur eine durch bewusstes menschliches Handeln herbeigeführte Überwindung des Kapitalismus, also des wertförmigen Reichtums – und der von ihm konstituierten Subjektform – bietet überhaupt die Chance auf so etwas wie eine befreite postkapitalistische Gesellschaft. Sie müsste allerdings kommen, bevor der Wachstumszwang der Kapitalverwertung in Verbindung mit der Produktion des relativen Mehrwerts nur noch verbrannte Erde hinterlassen haben wird. Viel Zeit bleibt nicht.

Sunday, November 02, 2008

Für Kathrin

Die besten Dinge, klar, die passieren draußen,
ich erfuhr das früh am Bahndamm, Zigaretten rauchend,
unter der Eisenbrücke liegend, Züge rauschten drüber her,
und ich mit ihnen in den Westen oder nur ans Meer.
Als später Heiner auf der Fähre die Gitarre nahm und sang,
der bärtige Alte mit der Schnapsflasche rüber kam,
der Diesel wummerte im Takt und die Möwen wurden stumm,
da war der Schlüssel im Schloss, ich drehte nur noch um ...

... war weit weit weit weiter draußen,
irgendwo durch die Maschen gewischt.
Kann nicht dafür, bin nicht dabei
und würde nichts dagegen tauschen,
zieh die Mütze ein Stück tiefer ins Gesicht
und bin weiter draußen.
[...]
(Kai Degenhardt: Weiter draußen, 2008)

Saturday, November 01, 2008

Blutige Vernunft (5)

Aus dem Kapitel "Die Artefakte der Geschichte" (Robert Kurz)

Die Artefakte der Geschichte
[...] In welchem Verhältnis stehen die Subjektform und damit deren Negation zu den im weitesten Sinne kulturellen Inhalten der menschlichen Geschichte? Diese Inhalte können als Artefakte der Geschichte bezeichnet werden, sowohl der modernen als auch der vormodernen. Dabei handelt es sich um Erzeugnisse aller Art, geistige wie gegenständliche, um so genannte Produktivkräfte, um Kulturtechniken im weitesten Sinne, um "Potenzen", die aus der Geschichte der menschlich-gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der irdischen Materie und dem physischen Dasein, aber auch mit sich selbst, mit der eigenen Gesellschaftlichkeit, und mit den metaphysischen Problemen der eigenen Herkunft, des Todes usw. hervorgegangen sind. [...]

Es handelt sich um Inhalte (auch künstlerische, architektonische usw. Formen können hier als Inhalte gelten), die zwar unter dem Diktat einer fetischistischen gesellschaftlichen Formbestimmung und damit einer Bewusstseinsform stehen (der Subjektform der Moderne), aber darin nicht aufgehen. Es gehört zum Wesen der "Geschichte von Fetischverhältnissen", dass die Inhalte nie in der Form aufgehen, dass Form und Inhalt in einen Gegensatz treten und die Inhalte immer wieder gewaltsam nach Prokrustes-Manier der Form angepasst werden bis zu ihrer Zerstörung. [...]

Aus dieser Spannung und diesem Gegensatz von Form und Inhalt folgt natürlich nicht, dass die (kulturellen) Inhalte welcher Art auch immer per se "gut" [...] wären.[...]
Die sexuelle Verstümmelung kleiner Mädchen etwa kann kaum als positiver "kultureller Inhalt" geltend gemacht werden, und schon gar nicht als wunderbare Widerstandspotenz einer noch nicht vom Wertverhältnis versauten vormodernen Agrarkultur gegen die modernen Zumutungen, wie überhaupt die älteren Fetischverhältnisse ebensolche Zumutungs- und Herrschaftsverhältnisse sind, und demzufolge in ihrer Herrschaft, Unterwerfung und Selbstunterwerfung einschließenden Bewusstseinsformen ebenso hart zu negieren wie die moderne Subjektform. [...]

Aber auch die positiven, nicht schlechthin zu negierenden kulturellen Inhalte, Potenzen und Errungenschaften dieser Geschichte werden für immer die Kainsmale ihrer Entstehungsgeschichte an sich tragen, was gerade dann nicht verdrängt werden kann, wenn diese Potenzen in eine von fetischistischen Zwangsstrukturen befreite Menschheit notwendigerweise mit hinübergenommen werden. IN diesem Sinne wäre aus wert-abspaltungskritischer und aufklärungskritischer Sicht Walter Benjamins berühmte Sequenz zu verstehen: "Die Beute wird, wie das immer so üblich ist, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. Sie werden im historischen Materialisten mit einem distanzierten Betrachter zu rechnen haben. Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, sondern auch dern namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein." (Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen).
[...]
Dabei lassen sich drei Ebenen oder Erscheinungen von Artefakten der Geschichte unterscheiden: Werke der intellektuellen, im weitesten Sinne philosophischen (unter Einschluss der religiösen, politischen etc.) Reflexion; künstlerische Produkte aller Art [...] und Formen; und schließlich Kultur- und Produktionstechniken im weitesten Sinne. [...] für die intellektuellen und künstlerischen Werke gilt in der Regel, dass sie nicht reproduzierbar im engeren Sinne der inhaltlichen Kreation sind (im Unterschied zu ihrer bloß technischen Reproduzierbarkeit); es handelt sich um Denkmäler. Wir können nicht mehr wie Aristoteles oder Augustinus und nicht einmal mehr genau wie Marx denken; aber wir können ihre Werke lesen und ihre Gedanken erkennen, allerdings von einem anderen historischen Standpunkt aus. [...]
Gewiss stellen gerade die intellektuellen Erzeugnisse oft ganz unmittelbar die Fetischform und deren Affirmation als Reflexionsgestalten dar. In diesem Sinne handelt es sich gewissermaßen um negative Denkmäler. [...] Die Zerstörung dieser negativen Denkmäler des Denkens besteht in ihrer intellektuellen und praktischen Widerlegung.[...] Kant kann man insofern lesen, wie man das Nazi-Reichstagsgebäude in Nürnberg besichtigt.

Kultur- und Produktionstechniken können weil sie keine bloßen Denkmäler sind, sondern unmittelbar Praxis- und damit Lebensfragen, nicht als negative bestehen bleiben, sondern in ihrer Negativität nur abgeschafft werden, das heißt schlicht aufhören. Sie können umgekehrt überhaupt nur als positiv oder notwendig befundene aufgenommen, neu aggregiert und weiterentwickelt werden.

Zum anderen kann es eben deswegen nicht so sein, dass die Artefakte der Geschichte in ihrer inhaltlichen Gestalt als Kultur- und Produktionstechniken samt und sonders mit der Fetischform zusammenfallen, unter deren Herrschaft sie hervorgebracht worden sind. Das Brauen von Bier und das Keltern von Wein wurde vor Jahrtausenden wahrscheinlich in Mesopotamien erfunden, aber wir müssen nicht die gesellschaftliche Bewusstseinsform der alten vorderasiatischen Kulturen haben und nicht an ihre Götter glauben, um diese Techniken in Grundzügen reproduzieren zu können. Dasselbe gilt selbstverständlich für die Schrift und vieles andere.

Gerade in Bezug auf die kapitalistischen Artefakte wird sicherlich ein "Programm der Abschaffungen" sehr weit greifen müssen, weil die kapitalistische Formvergiftung der Dinge inzwischen ungeheuer weit fortgeschritten ist. Trotzdem kann das eben auch hinsichtlich der kapitalistischen Artefakte im weitesten Sinne nicht heißen, ein Tabula-rasa-Programm starten zu wollen. Das Fahrrad und die Taschenlampe müssen ebenso wenig notwendigerweise zusammen mit der männlich-wertabspaltenden Subjektform abgeschafft werden wie der Reißverschluss (oder ist Aufknöpfen erotischer?). Oder warum sollten das Telefon oder das Internet oder überhaupt die Anwendung der Elektrizität verschwinden? Oder bestimmte medizinische Techniken, selbst wenn die Krankenkassen ebenso wie das Hospital als Formen der Restriktion und Entfremdung aufhören? Die Abschaffung des Individualverkehrs [!] wiederum muss nicht notwendig bedeuten, nie und nirgends wieder einen Verbrennungsmotor zu benutzen.
[...] Die Teflonpfanne kann nicht deshalb verworfen werden, weil sie ein Abfallprodukt der kapitalitischen Raumfahrt-Technologie, damit des militärisch-industriellen Komplexes [...] ist, aber sie muss natürlich abgelehnt werden, wenn sie Krebs hervorrufen kann. [...]

Weder können also die Inhalte bzw. Artefakte der Geschichte grundsätzlich allein deshalb verworfen werden, weil sie überhaupt von einer fetischistischen Bewusstseinsform und in der Moderne von der Subjektform hervorgebracht worden sind.. Noch kann allerdings umgekehrt die Subjektform auch nur im geringsten damit gerechtfertigt und letztlich "gerettet" werden, dass sie überhaupt möglicherweise zu übernehmende Inhalte/Artefakte kreiert hat. Das wäre nicht viel intelligenter als das Argument des fordistischen Fortschrittsbewusstseins, die Nazis könnten doch nicht so übel gewesen sein, weil sie immerhin die Autobahnen gebaut hätten; selbst wenn bestimmte Artefakte des Kapitalismus - im Unterschied zur Autobahn - tatsächlich in eine post-fetischistische Geselschaft transformierbar sind.

Robert Kurz: Blutige Vernunft, 2004
[Das soll´s gewesen sein. Vielleicht wird man das Buch in 50 - 100 Jahren verstehen und zu würdigen wissen]