Sunday, September 30, 2012

Ist verkürzte Kapitalismuskritik "antisemitisch"?

Ihr müßt weiter gehen, rief Slavoj Zizek (sinngemäß) den Wallstreet Occupyern zu, "Bankenschelte krieg ich auch von jedem Faschisten zu hören."

Harte Worte. Im linkeren Teil Deutschlands kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen über die richtige Art von Kapitalismuskritik. Weitaus verbreiteter als fundamentale Angriffe auf das System sind Angriffe auf das "Geld", bei denen aber auch zu unterscheiden ist, zumindest zwischen moralisierender Spekulanten- und Bankenschelte, der Forderung nach strafferen Regeln für die Finanzmärkte, und der grundsätzlichen Zinskritik. Diesen allen werden von den totalen Kapitalismusgegnern "verkürzte Kapitalismuskritik" vorgeworfen, und m.E. auch zu Recht. Der Zinskritiker z.B. verkennt, daß nicht erst der Zins(zahlungs)druck das Hamsterrad in Bewegung setzt, sondern der Konkurrenzdruck - die Notwendigkeit von Darlehen und Zins ist nur eine der Folgen davon.

Aber das Thema hier soll ein anderes sein (vgl. Zizek): Ein weiterer Vorwurf lautet nämlich, daß diese "verkürzte Kritik" auch "strukturell antisemitisch" sei. Das ist natürlich extrem starker Tobak. Als ich ihn zum ersten mal erlebte (bei Robert Kurz), war ich fasziniert von der Idee, Kritik an der Finanzwelt mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen. Während ich den Begriff der "Anschlußfähigkeit" (an antisemitische Muster) aber für über jeden Zweifel erhaben hielt, hatte ich von Anfang an ein Problem mit dem Begriff eben des "strukturellen Antisemitismus". Klar, wenn jemand mit antijüdischen Klischees operiert, ohne es böse zu meinen, könnte ihm evtl. so ein so eine strukturelle Verfehlung zur Last gelegt werden. Aber Voraussetzung sollte doch zumindest sein, daß es überhaupt um Juden geht. Einige Theoretiker sind hier einfach "zu schlau". Worum es Robert Kurz und anderen ging/geht, ist der von den Nazis vertretene Gegensatz zwischem schaffendem (deutschen) Kapital (Realwirtschaft) und dem raffenden (internationalen/jüdischen) Kapital (Finanzwirtschaft).

Ich denke es ist nicht unsachlich, auf diesen historischen Zusammenhang und entsprechend latente Gefahren hinzuweisen. Allerdings bin ich heute der Meinung, daß nicht nur der Begriff des "strukturellen Antisemitismus" zurückweisen ist, sondern auch der Zusammenhang weitaus schwächer ist als z.B. von den Antideutschen (und teilweise auch den Wertkritikern) behauptet. Moshe Zuckermann führt aus, daß Antisemitismus in der Linken immer eher eine randständige Position war. Und wenn man sich die Nazizeit anguckt, unterschieden sich eben die linken Anhänger der Finanzkritik massiv von den rechten Antisemiten. Man wollte Letzteren den Unfug noch austreiben. Wer die Oberhand gewann, ist bekannt, diese damalige Unterschätzung der antisemitischen Strömung ändert aber nichts daran, daß es zwei völlig verschiedene Schienen und Motive waren/sind.

Aber es kommt noch etwas hinzu, das ich kürzlich beI Wolf Wetzel gelesen habe: Die Nazis wollten tatsächlich überhaupt nicht gegen das Finanzkapital vorgehen. Sondern nur gegen das (aus ihrer Sicht) jüdisch besetzte bzw. überhaupt gegen Juden.

Folglich kann ich die so angegriffenen "Finanzmarktkritiker" durchaus verstehen, wenn sie sagen: IHR stellt doch diese Verbindung her, zwischen Finanzwirtschaft und Juden, nicht WIR. (Zuckermann übrigens, obwohl er die verkürzte Kapitalismuskritik nicht teilt, erhebt denselben Vorwurf.)

Ein Detail noch am Rande: Es handelt sich wohl wieder mal um ein eher tief-deutsches Thema. In den USA soll es diese Assoziation Finanzwelt - Juden kaum geben. (Nach meinem Eindruck sind die Amerikaner eher anfällig für "Juden beherrschen die MEDIEN"-Stereotype.)

Und, unabhängig vom Antisemitismus-Thema: Ich teile zwar die Meinung der Wertkritiker, daß die private Aufblähung des Finanzmarkts (Spekulation usw) ebenso wie die private und staatliche Schuldenmacherei nicht für "die Krise" schlechthin verantwortlich zu machen seien, sondern diese (d.h. die kapitalistische Verwertungskrise eher aufgeschoben haben.
Trotzdem muß die Frage erlaubt sein, mit welchen Mitteln? Wenn bei Spekulationen unmittelbar die Abdeckung menschlicher Grundbedürfnisse gefährdet wird, ist Kritik selbstverständlich richtig. Gut natürlich, wenn einem dabei klar ist, daß die Alternativen innerhalb unseres Systems sehr beschränkt sind und die Handlungsspielräume (auch wenn "alternativlos" zurecht mal Unwort des Jahres war) immer enger werden.

Was bedeutet das alles? Daß der Vorwurf verkürzter Kapitalismuskritik keinesfalls einhergehen sollte mit dem Vorwurf des "strukturellen Antisemitismus" - nicht nur, weil er psychologisch unklug ist, wenn man Menschen überzeugen will - sondern auch, weil er einfach falsch ist (selbst wenn ein paar wahre Körnchen enthalten sind).