Thursday, February 28, 2008

Der Takt des Geldes

Das ist nun eine ganz eigenartige Sache. Daß unser Gefühl für Takt /Taktrhythmus nicht schon durch die menschliche Natur vorgegeben ist, dürfte ja keinem neu sein, der sich mit sehr alter Musik jemals beschäftigt hat. Bewußt ist es einem aber üblicherweise nicht. Vollends im Dunkeln liegen die wirklichen Gründe dafür, daß wir heute den Takt (betont - unbetont - betont - unbetont...) als normal und natürlich empfinden. Um diese Zusammenhänge geht es, und sie sind ebenso aufregend wie deprimierend, zeigen sie doch die Abhängigkeit der Kunst und des Kunstempfindens von etwas eher Schnödem wie dem Geld- und Warensystem. Eske Bockelmann hat dies in seinem Buch "Im Takt des Geldes" im Detail ausgeführt.

Claus Peter Ortlieb (Mathematiker) merkt in seiner Rezension dazu u.a. folgendes an:

Wie so Vieles, was das Aufklärungsdenken fälschlicherweise für "allgemein menschlich" hält oder sogar in der Biologie fundiert sieht, ist auch unser Rhythmus, der Takt-Rhythmus nämlich, historisch spezifisch. Er tritt erstmals zu Beginn des 17. Jahrhunderts und nur in Westeuropa auf, es gab ihn nirgendwo sonst als eben in der bürgerlichen Gesellschaft, er gehört zu ihr und nur zu ihr.
[...]
Dieser Wechsel des Rhythmusgefühls ist im Westeuropa des beginnenden 17. Jahrhunderts nahezu schlagartig erfolgt und lässt sich nicht auf Veränderungen in Musik und Poesie zurückführen, sondern ist umgekehrt deren Ursache. Bockelmann (S. 119) macht das beispielhaft fest an dem "Buch von der deutschen Poeterey" von Martin Opitz aus dem Jahre 1624, in dem dieser als erster die Forderung erhebt, Verse seien von nun an als Akzentverse, also nach dem Schema betont-unbetont zu dichten, weshalb Opitz selber seine bisherigen Verse als unzureichend empfindet und nach den neuen Regeln umschreibt. Offenbar wird zu dieser Zeit in den Subjekten ein Reflex implantiert, der uns seither zwingt, dem Taktrhythmus zu folgen und alles, was darin nicht aufgeht, als unrhythmisch zu empfinden, wie es Opitz seinen eigenen, älteren Versen gegenüber erging, die vor dem neuen Rhythmus nur noch als Knittelverse erscheinen.

Rezension Ortlieb

Saturday, February 23, 2008

Dort´n dort´n



Ein einfach nur wunderschönes Volkslied, das auf youtube mit bedrückenden Bildern unterlegt wurde. Dort´n dort´n

Friday, February 22, 2008

Kees van der Pijl

Einerseits ein notwendiges Korrektiv zum bisher (vor allem von A. Jappe) Gesagten, andrerseits greift es analytisch zu kurz, da die problematischen Folgen der (unstreitigen) Produktivätsgewinne nicht untersucht werden. Dafür werden aber die Folgen der "Kapitaldisziplin" angesprochen.

Interview mit Kees van der Pijl in der "Beute" 1997:

Beute: Manche britischen Ökonomen meinen, der Neoliberalismus
hätte die Krise seit den siebziger Jahren nur verschleppt, da
er im Gegensatz zum Fordismus der Nachkriegszeit kein
langfristig tragfähiges Akkumulationsmodell zustandegebracht
habe.

Pijl: Nein, die erzielten Produktivitätsgewinne sind
spektakulär. Der Neoliberalismus war erfolgreich, sonst wäre
er nach der ersten Regierungsperiode von Thatcher wieder
verschwungen. Die Exportindustrie, die für den Weltmarkt
produziert, konnte vor allem durch die Einführung der
Mikroelektronik und von Computern enorme
Produktivitätssteigerungen verzeichnen. Und die Erfolge halten
noch an.
Die verschiedenen Formen der Kapitaldisziplin sind keine
fertigen Programme, und sie werden nicht als Fünf-Jahres-Pläne
eingeführt. Es sind zukunftsorientierte Projekte, die zuerst
die Eliten begeistern und dann auch eine gewisse Massenbasis
bekommen.

Beute: Deuten sich keine Grenzen des Neoliberalismus an?

Pijl: Doch. Die Grenzen sehe ich in der Erschöpfung des
sozialen Lebens und der Biosphäre
. Die Menschen sind
selbst in ihrer Privatsphäre nicht mehr vom Profitdruck und von
der Warenform abgeschirmt. Sogar in den Ferien, beim Fernsehen
oder Zeitunglesen bleiben sie bewußt oder unbewußt immer ein
Teil des Verwertungszyklus. Auf Dauer zerstört das die
Persönlichkeit und den Lebenszusammenhang der Menschen. Diese
Erschöpfung der Gesellschaft ist eine Grenze der
kapitalistischen Disziplin. Daß die Gesellschaft die
Kapitaldisziplin nicht mehr erträgt, zeigt sich am Aufstand in
Frankreich im Winter 1995 - und solche Aufstände gibt es
überall in der Welt.
[...]
Die Disziplin des Kapitals einzuschränken wird kein Sturm auf
das Winterpalais sein, sondern eine langfristige
Angelegenheit, die aber auch der sozialdemokratischen
Anpassung zuwiderläuft. Es kann dann doch zu
Unannehmlichkeiten kommen, da sich die gegnerische Seite gewiß
nicht so einfach enteignen lassen wird. Aber viel wichtiger
ist, daß es einen Widerstand gegen die Erschöpfung geben muß
und daß er auch entstehen wird.

Mit dem Triumph des Neoliberalismus, wie es Fukuyama gesagt
hat, endet die Welt auf keinen Fall. Diese Vorstellung ist
absurd.

Thursday, February 21, 2008

Arbeit (4)

Anselm Jappe (vorerst zum Letzten):

Am Ende seiner historischen Laufbahn ist das Schlimmste, das der Kapitalismus den Menschen antut, nicht mehr die Ausbeutung, sondern die Ausschließung. Sein Endstadium zeichnet sich nicht durch die Existenz eines immer ausgedehnteren und immer revolutionäreren Proletariats aus - schon deshalb, weil die Abnahme des variablen Kapitals, die Bedeutung der Lohnarbeit, und damit des klassischen Proletariats stark verringert hat. Das Endstadium zeichnet sich im Gegenteil durch den Mangel an Personen aus, die auszubeuten sich lohnen würde.
[...]
Auch wenn sich viele noch weigern, die unerbittliche Logik zu verstehen, die zu einem so finsteren Zustand der Welt geführt hat, verbreitet sich doch die Empfindung, dass die kapitalistische Ökonomie die Menschheit vor große Probleme gestellt hat. Die erste Antwort darauf ist jedoch beinah immer die folgende: "Man muss zur Politik zurückkehren, um dem Markt Regeln aufzuerlegen. Man muss die von der Übermacht der Multinationalen und der Aktienmärkte bedrohte Demokratie wiederherstellen". Aber sind Politik und Demokratie wirklich das Gegenteil der verselbständigten Ökonomie, sind sie in der Lage, sie in ihre Schranken zu weisen?
[...]
In der fetischistischen Warengesellschaft ist die Politik jedoch ein sekundäres Subsystem. Sie existiert, weil der Warentausch keine direkten gesellschaftlichen Beziehungen vorsieht und deshalb eine Sondersphäre vorsieht, in der die allgemein-gesellschaftlichen Interessen geregelt und vermittelt werden. Ohne politische Instanz würden die Marktsubjekte unmittelbar zu einem Krieg aller gegen alle übergehen, und selbstverständlich würde sich niemand um Infrastrukturen kümmern wollen. [...]
Der moderne Staat ist also ein Ergebnis der Warenlogik. Er ist die andere Seite der Ware: Staat und Ware sind miteinander verbunden wie zwei untrennbare Pole. Ihre Beziehungen haben sich mehrfach im Laufe der kapitalistischen Geschichte verändert, aber es wäre ein großer Irrtum, sich von der gegenwärtigen Polemik der Neoliberalen gegen den Staat (die im übrigen von ihrer Praxis dementiert wird, sobald sie am Steuer sitzen) zum Glauben verleiten zu lassen, das Kapital habe eine fundamentale Abneigung gegen den Staat. Trotzdem haben der Arbeiterbewegungsmarxismus und beinah die ganze Linke stets auf den Staat gesetzt, manchmal bis zum Delirium, und in ihm das Gegenteil des Kapitalismus sehen wollen. Die zeitgenössische Kritik am neoliberalen Kapitalismus beschwört oft eine "Rückkehr des Staates", der einseitig mit dem Wohlfahrtsstaat der keynesianischen Phase identifiziert wird. in Wirklichkeit hat der Kapitalismus sich während seiner Durchsetzungsphase (zwischen dem 15. und dem Ende des 18. Jahrhunderts) selbst massiv des Staats bedient, und das auch später dort getan, wo die kapitalistischen Kategorien noch ihrer Einführung harrten, nämlich in den "zurückgebliebenen" Ländern im Osten und Süden der Welt im 20. Jahrhundert. Außerdem greift er auf ihn stets und überall in Notzeiten zurück. Nur in den Phasen, in denen der Markt auf eigenen Füßen zu stehen scheint, würde das Kapital gern die faux frais reduzieren, die ein starker Staat bereitet.

Die Linke irrt sich sehr, wenn sie dem Staat souveräne Eingrifsmöglichkeiten zuschreibt. Erstens, weil die Politik mehr und mehr reine Wirtschaftspolitik ist. So wie in manchen vorkapitalistischen Gesellschaften alles religiös motiviert wurde, dreht sich jetz jede politische Diskussion um den Ökonomiefetisch. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht der Unterschied zwischen der Rechten und der Linken hauptsächlich in ihren verschiedenen wirtschaftspolitischen Konzepten. Die Politik ist weit davon entfernt, der ökonomischen Sphäre äußerlich oder ihr überlegen zu sein, sondern sie bewegt sich vollkommen in deren Rahmen. Das ist nicht dem bösen Willen der politischen Akteure geschuldet, sondern beruht auf einem strukturellen Grund: Die Politik hat keine eigenen Eingriffsmittel. Sie muss sich stets des Geldes bedienen, und jede Entscheidung, die sie trifft, muss "finanziert" werden.[...] Die Staatsmacht funktioniert nur, solange sie es vermag, von gelungenen Verwertungsprozessen Geld abzuschöpfen. Wenn diese Prozesse erschlaffen, beschränkt und erstickt die Wirtschaft immer mehr den Handlungsspielraum der Politik. Es wird dann offenbar, dass die Politik in der Warengesellschaft in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Ökonomie steht. Mit dem Verschwinden seiner Finanzmittel beschränkt sich der Staat auf die - immer repressivere - Armutsverwaltung. Am Ende laufen selbst die Soldaten weg, wenn sie nicht bezahlt werden, und die Streitkräfte werden zum Privateigentum der barbarisierten Reste des Staatsapparates, wie es bereits in vielen Ländern der Dritten Welt geschehen ist, aber auch im ehemaligen Jugoslawien.

Wir haben die Hauptelemente der Krise der Wertgesellschaft angegeben: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus und sie setzt ganze Länder außer Kurs. Der Nationalstaat als Regulationsmechanismus ist im Verschwinden begriffen. Die ökologische Krise bedeutet, dass zwecks Aufrechterhaltung der Wertschöpfung die ganze Welt in die Retorte der Verwertung geworfen wird. [...] Diese Probleme bleiben außerhalb der Reichweite der Politik, die deshalb anfängt leer zu laufen.

Anselm Jappe, Die Abenteuer der Ware (frz 2003, dt. 2005)

Arbeit (3)

Nichts Neues, ich habe den Text jetzt bloß in 3 Häppchen statt in 2 aufgeteilt.

Anselm Jappe:

Diese Krise wurde ungemein verschärft durch die "mikroelektronische Revolution", die anders als frühere Umwälzungen in den Produktionstechniken kein neues Akkumulationsmodell mehr in Gang setzte, sondern von Anfang an enorme Mengen an Arbeit überflüssig, "unrentabel" machte. Im Unterschied zum Fordismus tut sie das mit einem solchen Rhythmus, dass keine Marktausdehnung mehr in der Lage ist, die Reduktion des in jeder Ware enthaltenen Arbeitsanteils zu kompensieren. Die Mikroelektronik zerschneidet entgültig den Zusammenhang zwischen der Produktivität und der im Wert dargestellten Verausgabung von abstrakter Arbeit. Sie setzt den "Teufelskreis" im Gang, den wir seit fast dreißig Jahren erleben. Um in einer Situation zu überleben, wo es selbst den Ast absägt, auf dem es sitzt - die Arbeit ,muss das kapitalistische System noch mehr als vorher nach Notbehelfen suchen, um momentan Zirkulation und Produktion in Übereinstimmung zu bringen. [...]
Diese Flucht geschieht mittels des fiktiven Kapitals, das heißt durch die Verselbständigung der Börsen und der Spekulation. [...]

Der Begriff des "fiktiven Kapitals" ist von Marx im dritten Band des Kapitals entwickelt worden, um das Kapital zu bezeichnen, das ausschließlich auf der Spekulation und dem Kredit, also auf der Erwartung zukünftiger Gewinne beruht; sobald die Einlösung dieser Versprechen auf die Zukunft in größerem Maße verlangt wird, muss die "Blase" platzen und reihenweise Bankrotte hervorrufen. Aber zu Marx´ Zeiten handelte es sich um eine Begleiterscheinung der realen Wirtschafskrisen. Die Finanzkräche hatten damals eine Bereinigungsfunktion und bereiteten jeweils einen Akkumulationsschub vor. Bis zum Ende des fordistischen Zyklus entsprach die Finanzspekulation mehr oder weniger dem Rhythmus und den Dimensionen der Realakkumulation.
Das hat sich tiefgreifend geändert, seit die Realakkumulation trotz aller Kredite zum Stillstand gekommen ist. Seither dient die Kreditaufnahme im wesentlichen dazu, eine schwindende Akkumulation zu substituieren und durch diese Simulation künstlich das Leben einer bereits toten Produktionsweise zu verlängern. [...] Mit dieser grotesken Verkehrung, die nicht einmal Marx hat voraussehen können, ist die reale Produktion zum Anhang des fiktiven Kapitals geworden. Die Schwindel erregenden Bewegungen an den Börsen seit 1987 haben nichts mehr mit den Konjunkturschwankungen der Reste der Realökonomie zu tun. Das fiktive Kapital ist sogar der eigentliche Wachstumsmotor geworden. [...]
... sind die überschnappenden Geldbewegungen nicht die Ursache, sondern die Folge der Störungen der Realökonomie. Diese würde nicht besser funktionieren, wenn man die spekulativen Exzesse abschaffen würde, wie es stirnrunzelnde Beobachter wie der humanitäre Spekulant George Soros oder die Zeitschrift Le Monde diplomatique predigen. In Wirklichkeit würde die Weltwirtschaft gar nicht mehr funktionieren, wenn man die Spekulationskrücken entfernen würde. Denn nach dem Platzen der Finanzblase wird man sehen, dass gerade sie es während einer gewissen Zeit verborgen hatte, dass die Wertakkumulation bereits an ihre historischen Grenzen gestoßen war. Natürlich muss das nicht das Ende der Produktion von Gebrauchsgütern bedeuten - unter der Bedingung allerdings, sie von der Wertproduktion abzukoppeln.

Es sind gerade die Erfolge des Werts, die letztlich zu seinem Untergang führen. Der Endsieg des Kapitalismus über seine vorkapitalistischen Reste ist auch seine endgültige Niederlage. Wenn der vollkommen entwickelte Kapitalismus "mit seinem Begriff übereinstimmt", bedeutet das nicht das Ende jeder Krisenmöglichkeit, sondern im Gegenteil den Beginn seiner wirklichen Krise und das Ende seiner historischen Laufbahn. Denn die Verwandlung von Arbeit in Wert hat es nötig, von zahlreichen anderen Aktivitäten umgeben zu sein, die ihrerseits nicht den Kriterien der Rentabilität und der Verwandlung in Wert gehorchen können oder bei denen die aufgewendete Arbeit nicht darstellbar ist. Die "faux frais" der Produktion machen nur einen Davon aus und zwar einen Teil, der noch zum "ökonomischen" Bereich gehört. Viel ausgedehnter, obwohl unkalkulierbar, sind alle für die gesellschaftliche Reproduktion unerläßlichen Tätigkeiten, die außerhalb der "ökonomischen" Sphäre stattfinden. Man kann von einer "dunklen Rückseite" der Verwertung sprechen, von einem enormen Schattenbereich, ohne den das Licht des als "Produktion" Geltenden nicht existieren würde. Der wichtigste Teil der nicht als "Arbeit" geltenden und deshalb nicht bezahlten Tätigkeiten wird von Frauen verrichtet. "Der Wert ist der Mann", besagt der Titel eines in der Zeitschrift Krisis Nr. 12 (1992) veröffentlichten Aufsatzes von Roswitha Scholz. Trotz seines abstrakten Charakters ist der Wert nicht "geschlechtsneutral", denn er beruht auf einer "Abspaltung": Alles, was Wert schöpfen kann, ist strukturell "männlich". Die Tätigkeiten, die nicht die Form abstrakter Arbeit annehmen können, und vor allem die Schaffung eines Schutzraums, wo der Arbeiter sich von seinen Mühen ausruhen kann, sind strukturell "weiblich" und werden nicht bezahlt.

(Die Abenteuer der Ware, 2003 frz, 2005 dt.)

Saturday, February 16, 2008

Arbeit (2)

Amselm Jappe:

Paradoxerweise ist es aufgrund seines größten Erfolgs, nämlich der Entfesselung der Produktivkräfte, dass der Kapitalismus seine Grenze erreicht: Die individuelle Arbeitskrafverausgabung bildet immer weniger den Hauptproduktionsfaktor. [...]
Die tatsächliche Funktionsweise der Produktion sprengt demnach mehr und mehr die Wertlogik. Gerade das ist es, was Marx in seiner Prophezeiung in den Grundrissen als einen möglichen Ausgang der Warengesellschaft vorhergesehen hatte. Leider erleben wir, dass es sich nicht um eine friedliche und schrittweise Überwindung der Warengesellschaft handelt, die nur auf die politische Ebene übersetzt werden müßte, wie es sich gewissse Konzeptheckereien vorsehen, die sich auf diese Marxstellen beziehen, oder wie es diejenigen verkündigen, die, auch ohne alle Theorie, Einfälle wie die "Free Software" als die Überwindung des Kapitalismus beschreiben. Die Wertform besteht weiterhin, aber nicht, weil die herrschenden Klassen so entschieden haben, sondern weil es sich um eine nicht als solche von den Subjekten wahrgenommene fetischistische Form handelt. Die Warenform, auch wenn sie "objektiv" überholt ist, ist nicht etwa im Verschwinden begriffen, sondern gerät immer mehr in Kollision mit ihrem materiellen Inhalt, den sie mitgeschaffen hat.
Der Widerspruch zwischen diesem Inhalt und der Wertform führt zur Zerstörung von ersterem. Sie wird besonders sichtbar in der ökologischen Krise und stellt sich dann als "Produktivismus" dar, als "Wachstumszwang", als selbstzweckhafte Produktion von unnötigen Gebrauchsgütern - die allerdings nur die Folge der selbstzweckhaften Verwandlung von abstrakter Arbeit in Geld ist. Die Produktion als Selbstzweck bedeutet nicht den größtmöglichen Ausstoß von Gebrauchsgütern, als ob es sich um eine Art Gier nach etwas Konkretem handeln würde, wie es oft in der Argumentation der Ökologisten erscheint. Wir haben es hier nicht mit einem unbändigen Trieb zu tun, sich mit materiellem Reichtum zu umgeben oder die Welt zu verwandeln. Der für den gegenwärtigen Kapitalismus bezeichnende gigantische Raubbau an den Naturgrundlagen ist auch nicht bloß Folge der Notwendigkeit, eine enorm angewachsene Weltbevölkerung zu ernähren, wie die Neo-Malthusianer dem Publikum einreden wollen, noch ihrer "übertriebenen" Ansprüche. Es ist vielmehr das Ergebnis der tautologischen warengesellschaftlichen Logik. Sechs Milliarden Menschen könnten sogar viel besser leben als heute und trotzdem viel weniger produzieren und arbeiten als gegenwärtig.
[...]
Die fortschreitende Erstickung der Warenproduktion aufgrund der Zunahme der "faux frais" und der unproduktiven Arbeit sowie die daraus hervorgehende Verringerung der Profitmasse sind - auf der logischen Ebene - eine unvermeidbare Folge der Grundwidersprüche der Ware. Die historische Wirklichkeit hat diese logische Ableitung bestätigt. Zuerst, weil der klassische Kapitalismus, der sich durch den Goldstandard - die unbeschränkte Konvertibilität der Währungen in Gold -, ausgeglichene öffentliche Haushalte und die freie Konkurrenz ohne Staatseingriffe auszeichnete, mit dem Ersten Weltkrieg zu einem Ende gekommen ist. Seitdem befindet sich der Kapitalismus in einer permanenten Flucht nach vorne, und er kann nur weiter funktionieren, indem er seine eigenen Gesetze suspendiert. Das Zeitalter, das von 1920, und spätestens von 1945 bis ungefähr 1975 reicht, wird heute zu Recht als "Fordismus" bezeichnet. Ausgehend von der amerikanischen Automobilindustrie und den von Henry Ford und Frederick Taylor eingeführten Neuerungen (Fließband, "wissenschaftliche" Arbeitsorganisation) hatte sich ein neues sozio-ökonomisches System ausgebreitet, zuerst in den Vereinigten Staaten und dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, auch in den anderen westlichen Ländern. Der Fordismus ging mit keynesianischen wirtschaftspolitischen Maßnahmen einher; die Ergebnisse waren die Massenproduktion halb-dauerhafter Güter zu niedrigen Preisen, hohe Löhne, Vollbeschäftigung, politische Demokratie, massive Staatsinvestionen in die Infrastrukturen und das soziale Netz. Das fordistische "Wirtschaftswunder" war aber nicht selbsttragend. Es war der Staat, der mit seinen, meist kreditfinanzierten, Investitionen die rapide Ausdehnung der unproduktiven Sektoren erlaubte - zum Beispiel durch den Autobahnbau, ohne den die Automobilisierung der Welt nicht möglich gewesen wäre. Das so induzierte allgemeine Wachstum hat ein Wachstum der produktiven Sektoren in absoluten Zahlen möglich gemacht, das ausreichte, um die relative Profitverringerung in jedem einzelnen Produkt zu kompensieren. Indem er die Welt bis zum Rand mit Waren anfüllte, vermochte der Fordismus es, um mehrere Jahrzehnte die stukturelle Krise des Kapitalismus aufzuschieben, die bereits in den zwanziger Jahren aufgetreten war, um mit der großen Krise von 1929 zu explodieren [*]. Um 1970-1975 hat sich der fordistisch-keynesianische Zyklus erschöpft, weil es unmöglich geworden war, die "Nebenkosten" zu finanzieren. Die Aufgabe des Goldstandards für den Dollar 1971 und die Rückkehr der Inflation in den westlichen Ländern waren die Anzeichen dafür.

[*] Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den früher in diesem Blog zitierten Ausspruch des US-Ökonomen Galbraith: "Krieg, nicht etwa ökonomische Weisheit, bendete die Depression" (8. Aug. 2007).

Anselm Jappe, Die Abenteuer der Ware (2003/2005)

Monday, February 11, 2008

Arbeit!

Anselm Jappe:

Die Arbeiterbewegung ist stets der Repräsentant eines notwendigen Bestandteils der kapitalistischen Gesellschaft gewesen: der Lohnempfänger. Deren Interessen haben sich jedoch auf Dauer durchaus nicht unvereinbar mit der kapitalistischen Entwicklung erwiesen. [...] Wenn die Gewerkschaften "schmerzhafte" Umstrukturierungen akzeptieren, um die "Wettbewerbsfähigkeit" "ihres" Unternehmens aufrechtzuerhalten und "Arbeitsplätze" zu retten, dann "verraten" sie nicht ihre Mission, sondern bringen die Identität von Kapital und Lohnarbeit an den Tag, die bereits mit dem Wert gesetzt ist. Aber nur die Traditionsmarxisten können in diesem negativen Ende des Klassenkampfes das Ende eines jeden gesellschaftlichen Antagonismus und den Endsieg des Kapitalismus sehen. Das weitgehende Verschwinden des Industrieproletariats hat sowohl den Kapitalismus als auch den Traditionsmarxismus in Schwierigkeiten gebracht. Nunmehr ist der beiden gemeinsame Bezugsrahmen zerbrochen. Die wirkliche Krise des Kapitalismus ist bereits im Gange, aber die letzten Marxisten vermögen sie nicht zu erkennen, denn das Verschwinden des Proletariats bedeutet auch das Ende ihrer Bezugswelt.
Die Arbeiterbewegung und ihre marxistischen Theoretiker haben die protestantische Arbeitsethik noch übersteigert und den Gegensatz zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit in den Mittelpunkt gestellt, als ob der Hauptgrund der Ausbeutung darin läge, dass die Kapitalisten nicht persönlich arbeiten. Diese Kritik war keineswegs eine Kritik der Arbeit, sondern eine Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus, eine Kritik an den Nicht-Arbeitern. "Den Müßiggänger schiebt beiseite", heißt es in der Internationalen. Dass der Arbeit den "Wert" schafft, begründet dann seinen Anspruch darauf, die zukünftige Gesellschaft zu leiten, die ausschließlich auf Arbeit beruhen und ausschließlich aus Proletariern bestehen wird - als ob es noch Proletarier ohne Kapitalisten geben könne und als ob die Arbeiterexistenz so schön wäre, dass sie auf alle Menschen ausgedehnt werden müsse. Wenn nötig, setzen die Vertreter des Proletariats die Proletarier selbst an die Arbeit. Die beiden Hauptströmungen der Arbeiterbewegung sind würdig durch die wohlbekannte Figur Stakanows und durch den ersten sozialdemokratischen Präsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, vertreten, der sagte: "Sozialismus bedeutet vor allem, viel zu arbeiten". Diese Tradition hält bis heute an: Vor einigen Jahren enthielten die Wahlplakate der SPD als einziges Versprechen: "Arbeit, Arbeit, Arbeit".
[...]
In den Ländern, wo die Arbeiterbewegung sich schrankenlos entfalten konnte, nahm deren Identifizierung mit der Arbeitsgesellschaft die Gestalt des Mythos vom "neuen Menschen" oder der "neuen Welt" an, der jede Rückkehr unmöglich machen und eine vollkommen an die Erfordernisse der - in diesem Fall "sozialistisch" genannten - Akkumulation angepasste Welt einrichten sollte. Wo ihr das nicht gelang, gab sie sich wenigstens Verwüstungsorgien hin, um den im Herzen der Ware eingeschriebenen Traum von einer Welt zu verwirklichen, in der nichts mehr an die mögliche Existenz einer anderen Welt erinnern würde. In dieser Hinsicht war die chinesische "Kulturrevolution" das konzentrierteste Resümee der kapitalistischen Geschichte, und in Pol Pots Kambodscha hat sich die Arbeitsgesellschaft in ihrer reinsten Form konzentriert. Die Verbrechen, welche die Apologeten des Kapitalismus am liebsten anführen, um jede Idee einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft zu diskreditieren, enthüllen in Wirklichkeit die tiefsten Tendenzen eben dieser Gesellschaft. [...]
Das Ergebnis des gigantischen Wachstums der Produktionsmittel ist, dass immer mehr gearbeitet wird, statt weniger. Selbst nach der Einführung der Vierzigstundenwoche wird in den modernen Gesellschaften mehr gearbeitet, als es die Sklaven oder Leibeigenen von früher taten, für deren Ausbeutung das Tageslicht, die Jahreszeiten usw. eine Grenze darstellten - (...]. Dank der Produktivkraftentwicklung steht dem Individuum heute eine viel größere Menge an Konsumgegenständen zur Verfügung. Aber um sie zu erhalten, muss es einen immer größer werdenden Teil seines Lebens der Arbeit widmen. Und wenn es nicht die Arbeitsstunden sind, die zunehmen, dann die Intensität.
[...]
Unsere ganze Argumentation führt uns dazu, nicht nur die "abstrakte" Arbeit, sondern die Arbeit überhaupt in Frage zu stellen. Hier empört sich der "gesunde Menschenverstand": Wie soll man denn leben, ohne zu arbeiten? Aber nur wenn man "die Arbeit" mit dem Stoffwechsel der Natur gleichsetzt, kann man in der Arbeit eine überzeitliche und unaufhebbare Kategorie sehen, die dann aber eben nur eine Tautologie ist.[...]
Es wäre aber nicht richtig zu sagen, das Syntheseprinzip der modernen Gesellschaft sei die materielle Produktion als solche, denn wenn eine Produktion nicht "rentabel" im Sinne der Verwertung aufgehäufter toter Arbeit ("Wert") ist, wird sie aufgegeben. Allerdings funktioniert die Wertakkumulation nicht ohne ein ständiges Wachstum der Gebrauchsgüterproduktion. Deshalb ist der Kapitalismus die einzige Gesellschaft, die die materielle Produktivität zum höchsten Gut erklärt hat. Daher rührt der wohlbekannte "materialistische" Charakter der modernen Gesellschaft, der als isolierter Faktor genommen das bevorzugte Objekt jeder rein moralistischer Kritik an ihr ist. In Wirklichkeit ist es nur indirekt, mittels der Selbstverwertung des Werts, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Erfordernisse der materiellen Produktion über alle sozialen, ästhetischen, religiösen und ethischen Gesichtspunkte siegen, während in anderen Gesellschaften im Gegenteil die materielle Produktivität solchen Rücksichten geopfert werden.
Zitiert aus: Die Abenteuer der Ware, von Anselm Jappe (2003/2005).