Robert Kurz aus meiner Sicht
Auch letztes Jahr wieder starb einer der Menschen, die wichtig für mein Denken waren und sind. Ich hatte Robert Kurz erstmals im Jahr 2007 gesehen. Vorausgegangen waren vor allem die 30-jährigen Jahrestage zum Deutschen Herbst 1977. Ich hatte mir damals viel überlegt, welche Motive die RAF-Kämpfer zu ihren Grenzüberschreitungen getrieben hatten. Auch zwei Bücher (Ensslin und Viett), so faszinierend sie auch waren, brachten keine wirkliche Klärung. Und davon ausgehend: Welche Überlegungen es heute außerhalb bzw. links von den üblichen linken Positionen es eigentlich gebe. Schließlich macht man nun seit Jahrzehnten rum, auch der Zusammenbruch von UDSSR und Co. fast zwei Jahrzehnte her, wie ist das alles einzuordnen?
Was ich also in 2007 fand, war die Gruppe "EXIT!" Der Name ist Programm, man will aus dem "warenproduzierenden Patriarchat" RAUS. Und der Name, der dort mit Abstand am häufigsten auftaucht, war und ist Robert Kurz. Ich meldete mich zu einem Seminar im Herbst 2007 an und saß Robert Kurz sogleich am Mittagstisch gegenüber. Ein im Persönlichen umgänglicher und sogar herzlicher Mann ohne Allüren, in dessen Kopf es ständig zu arbeiten schien. Beim einen oder anderen seiner Mitstreiter meinte ich sowohl leichtes Mißtrauen als auch das Bemühen um Offenheit zu spüren: Der Rauswurf aus der Gruppe Krisis im Jahr 2004 (in dessen Anschluß die EXIT! gegründet wurde) hatte Spuren hinterlassen, die bis heute - 2013 - noch stark fühlbar sind.
Insgesamt war seitdem die Beschäftigung mit seinem Werk für mich sehr ergiebig, wenngleich nicht immer einfach. Vor allem an seinem Werk "Blutige Vernunft", eine Kritik an der Aufklärung (!) (natürlich nicht vom Standpunkt der Gegenaufklärung aus) biß ich mir ziemlich die Zähne aus. Robert war nicht nur ein äußerst (quantitativ) produktiver Autor, sondern auch ungewöhnlich wortmächtig (ja, auch für einen Schriftsteller). Das hat nicht nur Vorteile, sondern kann auch dazu führen, daß der Leser sich fragen muß: Hat das jetzt nur beeindruckend geklungen, oder hält es auch einer sachlichen Prüfung stand? Was hat er letztlich überhaupt gesagt?
Letztlich, würde ich heute sagen, hält das meiste stand. Generell empfiehlt es sich, bei ungewohnten, neuartigen Themen Texte verschiedener Autoren zu lesen, die die gleiche Stoßrichtung haben, ohne aber nur voneinander abzuschreiben.
(M.E. zurecht) ungehalten reagierte Robert idR auf Vorhaltungen, die ganze Theorie sei doch Mist, nur die Praxis zähle. Ebenso auf den Vorwurf, "euch Theoretiker versteht doch kein normaler Mensch". Letzteres stimmt aber natürlich des öfteren doch. Allerdings galt Robert Kurz zurecht als ein Theoretiker, der noch RELATIV allgemeinverständlich schrieb. Das hing aber auch stark vom jeweiligen Medium bzw. Auftraggeber ab. Die Artikel für das ND enthielten höchstens "Theorie light" - es war ihm auch etwas unangenehm, daß Leute sich die Mühe machten, gerade solche Artikel zu übersetzen.
Leider hat meine Begeisterung für Robert Kurz seit Anfang 2009 stark gelitten (oder vielleicht ist es auch gut so, man soll ja keine Heiligen haben). Als Reaktion auf den Angriff der Israelis auf Gaza und die entsprechende Kritik an Israel fiel ihm nur ein Artikel namens "Der Krieg gegen die Juden ein". Trotz seiner früheren Kritik an den antideutschen Israelverherrlichern war mir schon im Jahr 2008 seine verhärtete Position in der sog. Nahostfrage aufgefallen. Sein ewiges Credo war: Israel ist ein Staat mit Doppelcharakter: ein kapitalistischer Staat wie (fast) jeder andere, PLUS ein Bollwerk gegen Antisemitismus. Daß dabei ein paar "Kleinigkeiten" unter den Tisch fielen, schien den (ansonsten) großen Denker nicht zu stören. Ich glaube allerdings, es hat ihn durchaus gestört, daß er sich insoweit antideutsche Denkweisen und eben auch Denkverbote auferlegt hat, er hielt die Position aber weitgehend durch; immerhin jedoch sprach er zur Jahreswende 2011/2012 von der Gefahr einer Delegitimation des zionistischen Projekts.
Weniger dramatisch, aber ebenfalls falsch und praktisch bedeutsamer schien mir seine Haltung zum Bedingungslosen Grundeinkommen (BGE) zu sein. Es gibt eine Audio-Datei im Netz, in der er ungefähr Folgendes sagt: "Und dann sagt mir einer: Robbi, du verstehst das nicht! Ich will das BGE nicht dauerhaft haben, ich will es nur als Ermächtigung, damit ich von dort aus weiterkämpfen kann. Da sagte ich ihm: Und wieso glaubst du, daß die Systemerhalter dir diese Ermächtigung geben wollen? Und wenn du soviel Druck machen kannst, daß sie es tun, wieso dann nicht gleich das durchsetzen, was du EIGENTLICH willst?"
Nun, die Antwort dürfte klar sein: Auf das BGE als Ziel können sich wesentlich mehr Menschen auf Anhieb verständigen als auf irgendwelche noch auszuarbeitenden zukünftigen Gesellschaftsordnungen. Robert selbst sprach nicht oft, aber manchmal doch, von einem "umfassenden Rätesystem" oder von einer Art Weltkibbuz. Das sind Stichworte, die bei manchem wohl erstmal Fluchtreflexe auslösen.
Kommen wir zum Kern seines Schaffens. Auch in den Nachrufen der Rest-Krisis wurde deutlich, daß Robert Kurz zwar die "Wertkritik" nicht allein entwickelt hat - gegeben hat es sie sowieso schon seit Marx -, aber ihr führender Denker war. Dies wurde (von anderen) gelegentlich bestritten: Er habe das Thema - und sich selbst -nur am besten präsentieren können. Klar, hier steckt, obwohl im Wesentlichen falsch, ein Körnchen Wahrheit drin, denn wie bereits gesagt, war er in der Lage, die Erkenntnisse sehr treffsicher und sprachlich lebendig zu vermitteln. Worin die Wertkritik besteht, ist kaum in einem Satz gesagt, aber in einer aktuellen Vortragsankündigung gibt Prof. Claus Peter Ortlieb doch in aller Kürze einen Einblick:
--- "Der von Marx in die Formel G-W-G’ [Geld-Ware-Geld] gefasste Antrieb, durch Ausbeutung von Arbeit aus Geld mehr Geld zu machen, der die kapitalistische Produktionsweise als ihr alleiniges Prinzip am Laufen hält, ist von Marxisten lange Zeit allein unter dem Aspekt der damit verbundenen Aneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts (in der spezifischen Form des Mehrwerts) kritisiert worden. Dabei handelt es sich um eine Kapitalismuskritik, die das Kapitalverhältnis gar nicht in Frage stellt. Es geht ihr nur um die gerechtere Verteilung innerhalb dieser spezifischen gesellschaftlichen Form.
Warenform und Wertvergesellschaftung werden dagegen nicht kritisiert. „Wertkritik“ geht demgegenüber tiefer: Sie kritisiert die Warengesellschaft als ein Fetisch-System, dessen Mitglieder nicht durch bewusste Verständigung über den Einsatz ihrer gemeinsamen Ressourcen, sondern nur indirekt über die (abstrakte) Arbeit und den durch das Geld vermittelten Tausch miteinander in Verbindung stehen und sich damit einem abstrakten Prinzip ausliefern, das sich ihnen gegenüber verselbständigt hat." --- (C.P. Ortlieb, 2012)
Dazu kam aber, und zwar vor allem über die Feministin Roswitha Scholz, die Frage der "geschlechtlichen Abspaltung" . Hier war m.W. wieder Robert Kurz derjenige unter den "Jungs", der diesen Aspekt ernst nahm und den 68er-Machismus (auch bei sich selbst) geißelte. Scholz äußerte einmal, wenngleich in anderem Zusammenhang (die Auseinandersetzung in 2004, s.o.), "frau" brauche in solch männerdominierten bzw. männerbündischen Gruppen immer einen "Zuhälter". Diesen fand sie quasi in Robert Kurz. "Wertabspaltungskrtik" ist seitdem der neue Oberbegriff für die von krisis bzw. Exit! vertretene Theorie. Und deshalb setzt C.P. Ortlieb seinen oben zitierten Text wie folgt fort:
--- "Zu dieser Gesellschaftsform gehört eine spezifische Form der in ihr handelnden und von ihr konstituierten Subjekte ebenso wie eine spezifische Form der Herabsetzung des Weiblichen („Wertabspaltung“), die ein Produkt der Warengesellschaft und Bedingung ihrer Möglichkeit zugleich ist. Eine Überwindung des Kapitalismus kann daher nicht nur die Abschaffung der Ausbeutung beinhalten, sondern muss darüber hinaus die kapitalistischen Realkategorien von Arbeit, Geld, Äquivalententausch und patriarchalem Geschlechterverhältnis überwinden." ---
Eine besondere Sicht hatte Robert Kurz auf die "realsozialistischen" Systeme des Ostblocks. Er (und seine Mitstreiter) betrachteten sie als Systeme der nachholenden (kapitalistischen) Modernisierung in Form staatlicher Kommandowirtschaft, teilweise sozial oder "sozialistisch" angestrichen. Darum bezeichnete er den "Staatssozialismus" auch gern (wenngleich mit Vorbehalten) als "Staatskapitalismus", denn die Kategorien Arbeit, Wert (!), Markt; Staat usw. waren ja alle erhalten geblieben. In seinem Buch "Kollaps (!) der Modernisierung" verarbeitete er den Untergang dieses "Realsozialismus", der für ihn folgerichtig war. Allerdings verwies er seitdem immer wieder darauf, daß dieser kapitalistische Ableger sich zwar an Bord des "richtigen Kapitalismus" gerettet hatte - jedoch just dann, als jener selbst leck geschlagen hatte. Denn wichtig bei dieser Form der
Wert(abspaltungs)kritik ist die Annahme einer finalen Krise aufgrund der inneren Widersprüchlichkeit des Kapitalismus.
Somit ereilte ihn auch (mehr oder weniger) das Schicksal, als ewiger Krisen- oder Untergangsprophet zu gelten. Dabei wurde geflissentlich "mißverstanden", daß es nie darum ging, der Kapitalismus könnte durch Zusammenbruch einfach aufhören und man müsse nichts tun. Im Gegenteil nimmt der Kapitalismus in seinem Zusammenbruch immer barbarischere Formen an und hört von selbst niemals auf, solange er nicht durch eine gesellschaftliche Massenbewegung (die ein entsprechendes Bewußtsein voraussetzt) in ein anderes System überführt wird. Zugeben würde ich aber, daß EINE Voraussetzung hierfür in einem gewissen Maß an Leidensdruck besteht. Insofern bietet der "Zusammenbruch" Risiken und Hoffnung zugleich.
In seinem spannenden, dicksten und bekanntesten Buch "Schwarzbuch Kapitalismus" (1999) wird weniger dicht Theorie gewälzt als in anderen Texten, sondern mehr Wert auf eine faktenreiche Darstellung der historischen kapitalistischen Entwicklung gelegt. Vorausgegangen war ein Buch "Schwarzbuch Kommunismus" (Aufsatzsammlung diverser Autoren, 1997), in dem von zig Millionen Toten durch Stalinismus, Maoismus usw. die Rede war. Nun wurde offenbar befürchtet, Robert Kurz würde das große Aufrechnen beginnen. Stattdessen machte er etwas, das die Kommunistenfresser sicher als infam betrachten, m.E. aber durchaus gut begründet ist: Er vergleicht keine Opferzahlen, sondern addiert sie. Die frühkapitalistischen Opfer (wohl vor allem in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts), die stalinistischen Opfer, und ja, auch die Opfer des Nationalsozialismus, sie alle seien ein Produkt des Kapitalismus. Dies entspricht der o.g. Theorie der nachholenden Modernisierung, sowie der Annahme, daß der Kapitalismus in der Krise sein wahres Gesicht zeige, der NS-Staat also im tieferen Sinn keine "Entgleisung" des Systems gewesen sei, sondern dessen Wesenskern zum Vorschein bringe.
Zu den "kommunistischen Opfern" folgendes Zitat:
"Was heute als "Verbrechen des Kommunismus" in der apologetischen Literatur hurrademokratischer Ideologen akribisch aufgelistet wird, war nichts anderes als die zeitlich komprimierte Wiederholung der frühkapitalistischen Schrecken. "
Sein letztes Buch, das er gerade noch vor seinem Tod fertigstellen konnte, trägt den Titel: "Geld ohne Wert". Das muß ich auch noch lesen. Oder lieber die Praxis abwarten?
Es gibt außerdem einige Fragmente. Daß Robert Kurz mit seinen Büchern oft Verspätung hatte, lag nämlich keineswegs daran, daß er nicht in die Gänge gekommen wäre. Ganz im Gegenteil ergab sich aus der Arbeit an den Manuskripten ständig Neues, d.h. wieder neue Projekte. Tatsächlich wolllte er jetzt noch eine ganze Reihe von Büchern schreiben; die neun Abschnitte , die er fertigstellen konnte und derzeit nach und nach veröffentlicht werden, sind nur ein Teil eines geplanten Buchs ("Krise und Kritik"), und dieses wiederum wäre nur eins von mehreren geplanten Büchern gewesen (neben "Geld ohne Wert").
Ich schrieb beim Tod von Franz Josef Degenhardt sinngemäß: "Ihm wäre wohl noch Bedeutsames eingefallen, wenn er weitere 10 Jahre gelebt hätte. Aber das, was er bis zu seinem Tod hat sagen wollen, hat er auch sagen können."
Bei Robert Kurz stimmt Satz 1 ebenfalls, Satz 2 hingegen gar nicht! Vielmehr hat ihn die Banalität eines medizinischen Problems (es war sogar die Rede von einer Verwechslung der Organe bei einer Operation) mitten aus Schaffen und Plänen gerissen.
Zuletzt sah ich Robert im Herbst 2009. Er verabschiedete sich bemerkenswert herzlich von mir, obwohl wir uns kaum persönlich kannten
Diese Erinnerung bleibt mir nun, und alle seine Texte. Und vielleicht ein Auftrag, denn wie die EXIT! Redaktion in einem Nachruf schrieb:
"Die kritische Theorie verliert in ihm einen streitbaren Denker und radikalen Kritiker in einer Zeit, die mehr denn je danach verlangt, 'alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist' [Marx]. Dafür hat Bobby gelebt und gestritten."
7 Comments:
Die Rote Garde vor Mammons Tempel
"Nicht durch das, was die Parteipresse den Lesern an Tatsachenmaterial vorsetzt, schafft sie den einseitig orientierten Parteimann, auch nicht mit der Redaktion der Leitartikel gelingt ihr das. Der redaktionelle Teil der Zeitung steht unter der Kontrolle der Logik der Leser und der Tatsachen. Hier kann nicht viel parteipolitischer Schwindel getrieben werden. Aber durch das, was dem Leser an Tatsachenmaterial verheimlicht, d. h. unterschlagen wird, wirkt die Presse im Sinne des Parteigeistes, stellt sie die von ihr verbreiteten Nachrichten in das Zwielicht der Parteiinteressen, schafft sie den elenden Tropf, den Parteimann, den Mann, der das weiße Licht nicht mehr verträgt und alles nur durch das gefärbte Licht des Parteiprismas betrachten kann. So ist der Parteigeist das Erzeugnis der Urteilsfälschung mittels systematisch betriebener Unterschlagung des zur Bildung des objektiven Urteils nötigen Tatsachenmaterials, ein Erzeugnis der Lüge, verabscheuungswürdiger Lüge!
Wer alle Tatsachen erfährt, geht zumeist sehr schnell der Partei verloren. Er entwickelt sich über die engen Grenzen des Parteiprogramms hinaus. Er sieht das Ganze, und "aufs Ganze" heißt dann auch bald sein Programm.
…Noch könnt ihr durch Übernahme des freiwirtschaftlichen Programms den Beweis liefern, dass es euch wirklich heiligster Ernst ist mit der Bekämpfung der kapitalistischen Ausbeutung, dass euch das Leben der arbeitenden Menschen höher steht als Partei und Dogmen, und dass, wenn ihr schon in all den Jahren das Zinsproblem aus der Diskussion ausgeschaltet habt, dies einfach aus Unkenntnis geschah, nicht aber auf höheren Befehl der Börse und der Bankokratie, die euch als Schutzgarde des Kapitalismus missbraucht, wahrscheinlich, ohne dass ein einziger von euch es bis jetzt gemerkt hat."
Silvio Gesell, 1922
"Sozialdemokraten", "Grüne", "Linke" und Gewerkschaften, die im Unterschied zu "Christdemokraten" und vorgeblichen "Liberalen" die kapitalistische Ausbeutung wenigstens nicht verleugnen (auch wenn sie noch immer keine blasse Ahnung von der Ursache haben), sind über naive marxistische Denkschablonen bis heute nicht hinausgekommen. Somit konnte es ihnen nicht gelingen, die uralte Soziale Frage zu lösen, auch wenn das dafür erforderliche Wissen längst zur Verfügung steht:
Mammons Tempel
Genau gegen die Zinskritiker a la Gesell hat Robert Kurz sein Leben lang angeschrieben.
Die Kritik am Kapitalismus durch die deutschen Linken führt in die Irre. Wer für Umverteilung ist, ist selbst ein Kapitalist und damit nicht besser als alle anderen. Auch das hat Kurz kritisiert.
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