Thursday, October 23, 2008

Blutige Vernunft (4c)

Es wird jetzt nicht einfacher...

Das Wertverhältnis als Abspaltungsverhältnis ist an sich schon eine in sich gespaltene, als Polarität gesetzte Identität. Die negative Identität bildet die Wurzel, aus der immer neue Spaltungen und damit Polaritäten erwachsen. [...]

Schon auf der Ebene des übergreifenden, geschlechtlich bestimmten Abspaltungsverhältnisses lassen sich eine Reihe von solchen Polaritäten erkennen:
Subjekt - Objekt
Männlichkeit - Weiblichkeit
Öffentlichkeit - Privatheit

Dieses System feindlicher Polaritäten setzt sich fort auf dem Boden des andozentrisch definierten Wertverhältnisses selbst, also innerhalb des abstrakten Universalismus von Freiheit und Gleichheit:
Politik - Ökonomie
Staat - Markt
Macht - Geld
Planung - Konkurrenz
Arbeit - Kapital
Theorie - Praxis

Bekanntlich hat sich die gesamte Modernisierungsgeschichte des Werts im engeren (politisch-ökonomischen) Sinne als permanenter Kampf dieser Polaritäten bewegt. "Markt oder Staat?", dieser Evergreen bürgerlicher Scheinalternativen im Gehäuse der Wertform, die doch immer nur die unheilbare Schizo-Struktur dieser ihrer selbst nicht bewussten Gesellschaft darstellen, wird auch heute noch unverdrossen abgeleiert. Wie die Wertkritik jenseits des bloß immanenten Klassenkampfs von Lohnarbeit und Kapital agieren muß, so auch jenseits des ewigen Tauziehens zwischen Markt und Staat. Gegenstand der Kritik kann nur das gemeinsame Bezugssystem des Werts selbst sein, eben jenes übergeordnete Wert-Abspaltungsverhältnis, das die Gegensätze von Arbeit und Kapital, von Markt und Staat usw. überhaupt erst aus sich heraus gesetzt hat und deren negative Identität bildet.

Der Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärung, Moderne und Gegenmoderne gehört derselben Klassifizierung von immanenten Polaritäten des Wert-Abspaltungsvberhältnisses an. Nimmt man nicht bloß das basale Abspaltungsverhältnis für sich und das Wertverhältnis für sich in den Blick, sondern das übergreifende, in sich gebrochene Gesamtverhältnis der negativen Identität, so lassen sich eine ganze Reihe weiterer Polaritäten erkennen, die gerade auf die Schizo-Struktur der Aufklärung als Reflexionsform des Werts verweisen:
Fortschritt - Reaktion
Vernunft (Rationalität) - Irrationalität
Zivilisation - Barbarei
Kultur - Natur
Freiheit - Knechtschaft
Demokratie - Diktatur
Individuum - Gesellschaft
Gleichheit - Differenz
Gesellschaft - Gemeinschaft

Es gibt eine Fülle von Bezügen, in denen sich die fendlichen Polaritäten auf verschiedenen Ebenen bewegen, von Ebene zu Ebene springen, sich wechselseitig durchdringen und nur in dieser dynamisierten Gegensätzlichkeit das negative Ganze ausmachen. So bildet nicht nur der Gegensatz von Subjekt und Objekt, von (identitätslogischer) Männlichkeit und (abgespaltener) Weiblichkeit oder von Markt und Staat die Bewegungs- und Existenzform des Wert-Abspaltungsverhältnisses, sondern eben auch der Gegensatz von Aufklärung und Gegenaufklärug, von Modern und Gegenmoderne. Dieser Gegensatz ist die Moderne der Wertvergesellschaftung, die als immer schon gespaltene und negative gar nicht zu einer positiven, in sich ruhenden Identität gelangen kann. Weit davon entfernt, ein vor- oder außermodernes Bewusstsein darzustellen, sind Gegenaufklärung und Gegenmoderne integrale Bestandteile von Aufklärung und Moderne selbst, die nur in der Polarität zu ihrer eigenen immanenten Negation überhaupt existieren kann.

Dies läßt sich auch historisch-empirisch zeigen. Die Gegenaufklärungs ist aus der Aufklärung selber hervorgegangen, nicht als bloß äußere Gegenreaktion, sondern gewissermaßen wie Athene aus dem Haupt des Zeus. Bei den gegenaufklärerischen und "antimodernen" Ideen, wie sie sich in der romantisch-existentialistischen Geistesgeschichte niedergeschlagen haben und in politischen Ausdrucksformen wirkmächtig geworden sind, handelt es sich usprünglich um Gedanken der Aufklärung selber in ihrer originären aporetischen Struktur. Das gilt nicht nur für Antisemitismus und Rassismus, sondern auch für Nationalismus, Biologismus, Autoritarismus, Irrationalismus als Kehrseite der wertförmig konstituierten Vernunft usw. [...]

Und das Umschlagen von Fortschritt in Reaktion, von Vernunft in Irrationalität, von Demokratie in Diktatur usw. hat die gesamte Modernisierungsgeschichte begleitet; nicht etwa als bloße "Wechsellagen" im Machtkampf von einander äußerlichen Kräften, sondern als Erscheinung der negativen Identität, das heißt als Erscheinung des Reaktionären am Fortschritt selbst (etwa in der Weiterentwicklung des bürokratischen Apparats des Absolutismus durch die französische Revolution, worauf schon Tocqueville hingewiesen hat), des Irrationalen an der Vernunft selbst (etwa in der Externalisierungslogik der Betriebswirtschaft, im Umschlagen der ökonomischen Konkurrenz in Krieg usw.), des Diktatorischen an der Demokratie selbst (etwa im Vollzug von "Nostandsgesetzen", in der Behandlung von Flüchtlingen und Sozialhilfeempfängern, in der bürokratischen Menschenverwaltung überhaupt, bis hin zu den heutigen [2004] antisozialen Gegenreformen). Rein phänomenologisch betrachtet wurde dieses Umschlagen immer wieder bemerkt und skandaliert, aber eben nie auf den Begriff gebracht, weil sonst der faule Zauber des immanenten Gegensatzes nicht mehr als paradoxe Selbstrechtfertigung der Aufklärung hätte funktionieren können.

Robert Kurz: Blutige Vernunft, 2004

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