Tuesday, July 08, 2008

Nochmal Polanyi

Wie gesagt, schreibt er vor ca. 65 Jahren als Beobachter einer untergegangenen Marktwirtschaft. Eine Marktwirtschaft, die im 19. Jahrhundert katastrophale Armut hervorbrachte und die seit ca. 1900 nicht mehr funktionierte bis hin zur großen Depression. Das "Ob" ist für ihn kein Thema mehr. Sehr wohl ein Thema sind für ihn allerdings die Versuche, die Ursachen für diese Misere an anderer Stelle zu suchen: Für die Wirtschaftsliberalen ist nämlich nicht die Marktwirtschaft schuld, sondern die Ideologen, die immerzu Eingriffe in diese predigen. Der Wirtschaftsliberalismus hätte nie eine echte Chance gehabt. Polanyi, eigentlich ein moderater Analytiker, findet harte Worte für diese Haltung:

In Amerika berief sich der Süden zur Rechtfertigung der Sklaverei auf die Argumente des Laissez-faire; der Norden verlangte das bewaffnete Eingreifen zur Errichtung eines freien Arbeitsmarktes. Die von liberalen Autoren erhobene Anklage gegen den Interventionismus ist somit ein leeres Schlagwort und bedeutet bloß die Verurteilung einer und derselben Reihe von Handlungsweisen, je nachdem, ob sie sie billigen oder nicht. [...]
Schließlich enthüllt die Analyse, daß nicht einmal radikale Verfechter des Wirtschaftsliberalismus jener Gesetzmäßigkeit entkommen konnten, die das Laissez-faire in fortgeschrittenen Wirtschaftsverhältnissen unanwendbar machte; denn in den entscheidenden Fällen des Gewerkschaftsgesetzes und der Antitrustbestimmungen mußten die extremen Liberalen selber vielfältige Interventionen des Staates anfordern, um die Voraussetzungen für einen funktionierenden selbstregulierenden Markt vor monopolistischen Gruppierungen zu schützen [Anmerkung: Von "selbstregulierend" kann dann aber m.E. keine Rede mehr sein]. Sogar Freihandel und der Wettbewerb erforderten Interventionen, um funktioneren zu können. Die liberale Legende der "kollektivistischen" Verschwörung der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts widerspricht allen Tatsachen.

Untere Interpretation der Doppelbewegung wird, so meinen wir, von den Beweisen erhärtet. Denn wenn die Marktwirtschaft eine Bedrohung der menschlichen und natürlichen Komponenten der Gesellschaftssubstanz darstellte, wie wir behaupten, was wäre dann anderes zu erwarten, als daß eine große Anzahl von Menschen das Bedürfnis nach einer Art Schutz hätte? Und dies haben wir ja festgestellt. Ferner war zu erwarten, daß dies ohne jegliche theoretische oder intellektuelle Voreingenommenheit ihrerseits und unabhängig von ihren Einstellungen gegenüber den einer Marktwirtschaft zugrunde liegenden Prinzipien vonstatten gehen würde. Auch dies war der Fall. [...] Schließlich bewies das Verhalten der Liberalen selber, daß die Aufrechterhaltung der Freiheit des Handels Interventionen nicht nur nicht ausschloß, sondern sogar solche forderte, und daß die Liberalen selber regelmäßig nach staatlichen Zwangsmaßnahmen riefen, wie im Falle der Gewerkschaftsgesetze und Antitrustgesetze geschehen. Die geschichtlichen Beweise sind somit ausschlaggebend für die Frage, welche der zwei konkurrierenden Interpretationen der Doppelbewegung die richtige ist: jene der Anhänger des Wirtschaftsliberalismus, er behauptete, seine Politik hätte nie eine Chance gehabt, sondern sei durch kurzsichtige Gewerkschafter, marxistische Intellektuelle, habgierige Fabrikanten und reaktionäre Grundbesitzer abgewürgt worden; oder jene seiner Kritiker, die die allgemeine "kollektivistische" Reaktion gegen die Expansion der Marktwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als schlüssigen Beweis für die Gefahren heranziehen können, die der Gesellschaft aus dem utopischen Prinzip eines selbstregulierenden Marktes drohen.

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