Tuesday, June 17, 2008

Maßstäbe

Wenn man das herrschende System fundamental kritisiert, stellt sich das Grundproblem, womit man es eigentlich vergleicht, woran man es "mißt". An der goldenen Vergangenheit (gute alte Zeit, früher war alles besser, usw.)? Wohl kaum, oder zumindest bedürfte dies der Präzisierung!
An irgendwelchen Vorstellungen? Utopien, Träumen? Das wirkt ebenfalls nicht koscher, denn im Vergleich zu Träumereien läßt die Realität naturgemäß immer einige Wünsche offen :)

Mir hat hier dieser Artikel von Anselm Jappe ein ganzes Stück weitergeholfen. Er macht sich Gedanken über Standpunkte, Bezugspunkte, und kommt als Alternative zu obigen Vergleichsmaßstäben zu folgender Überlegung:
Eine andere Möglichkeit - die Kurz selber wählt - besteht in der Behauptung, das emanzipative Moment beruhe auf dem Leiden, das die Warengesellschaft erzeugt, also auf dem Nicht-Aufgehen der realen Individuen in der gesellschaftlichen Subjektform des Arbeiters, Geldverdieners usw. Die Warengesellschaft sei einfach unerträglich, das brauche ebensowenig begründet zu werden wie das Wegziehen der Hand von einer heißen Herdplatte. Leider legt gerade auf dieser Ebene der Mensch, jedenfalls der moderne, eine unangenehme Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an den Tag. Sicher empfindet jeder körperliche Schmerzen als unangenehm, und zehn Stunden Steineklopfen am Tag würde auch kaum jemand unterhaltsam finden. Aber abgesehen von solchen Extrembeispielen läßt die Erfahrung des Leidens sich kaum verallgemeinern, da sie von Sozialisation und Gewöhnung abhängt. Den ganzen Tag mit Videospielen und „Playstations“ verbringen zu müssen, würde immer noch manchen Zeitgenossen wie eine Strafe aus dem achten Höllenkreis vorkommen. Aber für viele andere scheint es nichts Schöneres als das zu geben; und für diese wäre es umgekehrt eine Höllenpein, Marxens Fetischtheorie oder die Gedichte Góngoras lesen und interpretieren zu sollen. Ständig im Flugzeug von einer Konferenz zur anderen zu hetzen und in der Zwischenzeit ständig am Handy zu hängen, finden viele Manager so toll, daß sie unter Entzugserscheinungen leiden, wenn sie es nicht tun. Selbst manche Fabrikarbeiter der alten Schule litten angeblich unter Depressionen, wenn sie in Pension gingen. Jahrhundertelang fanden Millionen von Menschen Gefallen am Fasten, Wachen, Beten und Bußgürteltragen. Nicht einmal das physiologische Niveau ist ein zuverlässiger Maßstab: Menschen, die in Tokio oder Los Angeles aufgewachsen sind, haben angeblich Atemprobleme, wenn sie an die reine Luft kommen. Viele Menschen geben ihr in der Fabrik sauer verdientes Geld aus, um in Diskotheken Fabriklärm zu hören. Kurzum: worunter die Individuen leiden, das ist höchst variabel.


...und kommt zu einem durchaus tröstlichen vorläufigen Schluß:
Frühere Fetischformen in diesem Sinne waren weit weniger totalitär als der Warenfetisch, sie brausten gewissermaßen über die realen Gesellschaften hinweg und beschränkten sich darauf, deren Mehrprodukt abzusaugen und zu verprassen. Weit weniger als der Kapitalismus trugen sie selbst dazu bei, dieses Mehrprodukt herzustellen. Die wirkliche Menschheitsgeschichte ging gewissermaßen unterhalb dieser Oberfläche vor sich, und auf dieser Ebene kann man tatsächlich, zumindest auf gewisse Epochen und Regionen bezogen, so etwas wie einen „Fortschritt“ feststellen: seien es die Verbesserungen in der Landwirtschaft oder der Seefahrt oder dem Transportwesen während des Mittelalters (Einführung der Dreifelderwirtschaft, des Räderpflugs, der Wasser- und der Windmühle, des Kompasses, des Steigbügels), seien es kulturelle Fortschritte, wie die Verfeinerung des Rhythmusgefühls in der Entwicklung der europäischen Lyrik ab 1100. Die politische Macht wirkte hier oft als reiner Störfaktor: wenn die Nahrungsmittel, die ein europäischer Bauer zur Verfügung hatte, ab dem Ende des Mittelalters ständig unter dem mittelalterlichen Niveau lagen, war das keineswegs einer verringerten Produktivität der Felder als solcher geschuldet. Die Hungersnöte des 17. Jahrhunderts waren nicht in erster Linie der mangelnden Produktivkraftentwicklung geschuldet, denn auf der Ebene der Ernteerträge war die frühe Neuzeit tatsächlich „fortgeschrittener“ als das Mittelalter.

Es besteht deshalb Grund zu meinen, die Menschheit habe sich nach und nach von ihrer Naturverhaftetheit befreit und hätte sich, bei Sprengung ihrer politischen Fesseln, zu emanzipativen Zuständen fortentwickeln können. In diese, im großen Ganzen und trotz schwerster Rückschläge aufsteigende Linie wäre die Warengesellschaft ab der „Feuerwaffenrevolution“ dann wie ein Blitz eingeschlagen. Darum geht es ja auch bei der Aufklärungskritik, wie sie bereits im Schwarzbuch Kapitalismus dargelegt wurde: die Wertvergesellschaftung legte sich wie ein Leichentuch über Verhältnisse, die, wenn sie schon nicht wirklich selbstbestimmt waren, es doch zumindest hätten werden können oder es ansatzweise waren, da sie nicht durch Geld und Ware, Wert und Recht, Arbeit und Staat vermittelt waren. Die Aufklärungskritik gibt selber zu, daß es in den von der Aufklärungsideologie „pauschal abqualifizierten agrarischen Gesellschaften vormoderner Verhältnisse“ nicht nur „dumpfe Viehherdenstruktur“ ohne jede „Individualität“ gab (NO, S. 2), sondern auch positive Anknüpfungspunkte. Sicher, es sind nur Anknüpfungspunkte. Aber diese können immerhin einen teilweisen Vergleichsmaßstab abgeben. Und natürlich geht es auch immer um die „verschütteten Möglichkeiten“. Damit sind nicht nur die gescheiterten Revolten gemeint, sondern alle Formen, in denen die vorkapitalistischen Kulturen eine Vorstellung davon gegeben haben, wozu sie in der Lage gewesen wären: in Musik und Lyrik, Gesang und Epos, Mythos und Religion.

Freilich mit der Einschränkung, daß "aber [...] das in den letzten 8000 Jahren entstandene reale, soziale, sinnliche Individuum auch das Ergebnis von Fetischverhältnissen" ist.

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