Saturday, May 09, 2009

Biologie und Geschlecht

Abschließend zum Geschlechterthema einige Zitate von Eva-Maria Schnurr, mit Anmerkungen von mir. Der zitierte Artikel heißt "Typisch Mädchen, typisch Junge" und ist im Sammelband "Das F-Wort - Feminismus ist sexy" enthalten. Tja, was ich nicht so alles lese.

"Kann sogar sein, daß Franzosen besonders charmant sind und Anschläge derzeit vor allem islamischen Tätern anzulasten sind. Niemand jedoch käme auf die Idee, dafür biologische Ursachen zu vermuten. Die Kultur! Die Tradition! Die soziale Situation! Die Weltpolitik! Es gibt tausend Gründe, warum Menschen so sind wie sie sind, so handeln wie sie handeln. Doch wenn es darum geht, Verhalten oder Eigenschaften von Männern oder Frauen zu erklären, gibt es nur eine Deutung: Die Biologie.
Die Biologie ist schuld, daß Frauen nicht einparken und Männer nicht zuhören können, ist dafür verantwortlich, daß Kerle gut in Mathe sind und daß Frauen gemeinsam auf die Toilette gehen - letzteres behauptet zumindest die amerikanische Neuropsychiaterin Louann Brizendine in ihrem Buch "Das weibliche Gehirn". Aus allen kollektiven Bindungen haben wir uns im vergangenen Jahrhundert befreit: Religion, Nationalität, politisches Milieu. Familienform oder Lebensentwurf - alles ist heute frei wählbar, die Entscheidung jedes Einzelnen. Aber beim Geschlecht hört die Individualität auf, fängt das Regime der Biologie an."

(Anmerkung: Allerdings sind auch die genannten Freiheiten außerhalb der Geschlechterrollen eher marginal angesichts der Zwänge der kapitalistischen Konkurrenz)

"Die Vorstellung ist in vielen Köpfen fest verankert, es gebe eine Art biologisches Betriebssystem - bei dem einen Mensch XX, bei dem anderen Mensch XY -, das vom ersten Lebenstag an unser Handeln, Denken und Fühlen bestimmt.
Aber die Idee ist falsch. Möglich, daß es ein paar Anlagen gibt, mit denen man, zartblau oder zartrosa, auf die Welt kommt. [...] Aber die schönste Veranlagung nützt nichts, wird sie nicht gefördert."

(Anmerkung: Interessant könnte in diesem Zusammenhang auch die Theorie vom Menschen als "biologischem Mängelwesen" sein. Kultur wird hier teilweise als Kompensation der mangelhaften menschlichen Natur bei der Geburt aufgefaßt. Wie auch immer - ich kenne die Theorie nicht näher -, ich stimme ausnahmsweise mal einer herrschenden Auffassung zu, nämlich daß beim Menschen Natur und Kultur untrennbar ineinanderfließen. "Reine Natur" gibt es nicht. Herders berühmter Spruch: "Der Mensch ist der erste Freigelassene der Natur", hat sicher auch etwas Illusionäres, enthält aber m.E. durchaus einen richtigen Grundgedanken dahingehend, daß der Mensch seine Anlagen flexibel nutzen kann)

(Vorweg-Anmerkung: Eltern sagen zuweilen: "Ich habe alle Kinder völlig gleich erzogen, trotzdem zeigen sich klare Unterschiede zwischen den Geschlechtern". Das ist natürlich naiv: ]
Eltern und Umwelt vermitteln schon vom ersten Lebenstag an Geschlechterrollen, das zeigen sog. "Baby-X-Versuche". Konfrontiert man Erwachsene mit einem neutral gekleideten Baby, behandeln sie das Kind anders, je nachdem, ob ihnen gesagt wurde, daß es sich um einen Jungen oder Mädchen handelt. [...] Und wenn die Eltern noch so geschlechtsneutral erziehen - dann machen eben Freunde, Verwandte oder die Verkäuferin an der Wursttheke oder der Nachbar klar, was erwartet wird. {...] >>Wir lernen uns in unsere Geschlechterrollen hinein<<, formuliert es der Neurobiologe Lutz Jäncke, der an der Universität Zürich forscht.

In populären Büchern steht es anders. Vom "Steinzeithirn" ist da die Rede, das uns bis heute regiere und Männer zu stummen Jägern und Frauen zu quasselnden Hausfrauen mache [...] und immer wieder von der >>Natur<< und den ganz natürlichen Erklärungen für die eigenen Stärken und Schwächen. Das soll so klingen, als habe es die Unterschiede schon immer gegeben, als sei die Aufteilung der Welt in zwei verschiedene Geschlechter mit jeweils völlig verschiedenen Eigenschaften so alt wie die Menschheit selbst. Was gelogen ist. Sie ist gerade mal 200 Jahre alt. Es war das aufstrebende Bürgertum in der Zeit der Französischen Revolution, das "Natur" zum Maßstab aller Dinge verklärte und auf die Suche nach der "natürlichen Bestimmung" von Mann und Frau ging.

(Anmerkung: Die Autorin führt dazu aus, daß vorher die Frau als unvollkommener Mann galt. Es könnte etwas überraschen, daß sie die strikte Zweiteilung nicht wenigstens als Fortschritt betrachtet. Aber bei diesem Fortschritt kommen natürlich sehr gemische Gefühle auf, denn fündig bei der "Natursuche" wurde man bei der bürgerlichen Kleinfamilie, mit dem Mann als strebsam und erfolgreichen Berufstätigen, und der Frau als passiver Mutter und Ehefrau, also das Modell, an dem wir bis heute noch mehr oder weniger herumlaborieren)

"Gleichzeitig machten sich die aufstrebenden Naturwissenschaften daran, Unterschiede in Körpern, Gehirnen und Verhalten zu finden: Sie maßen, zählten, beobachteten und sortierten. Und etliche Forscher tun das bis heute.
Nicht daß sie nichts finden würden! Fast täglich dröhnen neue Befunde über die medialen Lautsprecher. Männer denken systematischer, Frauen emotionaler, Männer wollen Sex, Frauen eine Beziehung, Männer raufen, Frauen reden.
Aber inzwischen weiß man: Gene, Gehirne und Hormone sind keine Computerprogramme, die, einmal angeworfen, unbeirrbar ihre Algorithmen abarbeiten. Sie stehen in ständigem Kontakt mit der Umwelt - und verändern sich dadurch. [...]
Es gibt keine vorgefertigen Computerprogramme >>Mädchen<< oder >>Junge<<. Wie sonst ist es erklärbar, daß es Kulturen gab und gibt, die drei oder mehr Geschlechter unterscheiden?"

(Anmerkung: ´Mehr als zwei Geschlechter´ ist also keine neuere Idee, wie ich neulich glaubte. In der Biologie allerdings vielleicht schon...)
"Verhalten und Denkmuster werden zum allergrößten Teil gelernt. Weil Lernen aber die Nervenverbindungen im Gehirn verändert, können Vorurteile durchaus biologische Folgen haben. [...]
Was in den unzähligen Behauptungen über die angeblich so großen Unterschiede zwischen Männern und Frauen meist verschwiegen wird: Die Unterschiede innerhalb der Geschlechter [...] sind weitaus größer als die zwischen den Geschlechtern [...]. Anders gesagt: Männer und Frauen haben viel mehr gemeinsam als sie trennt."


"Jahrelang spukte die Behauptung durch die Welt, die Hirnhälften von Frauen seien besser vernetzt als die von Männern, was dann dazu führe, daß Frauen mehrere Dinge gleichzeitig können, Männer aber schlecht im Multitasking sind. Stimmt aber nicht. Nachmessungen zeigten: Nicht das Geschlecht, sondern die Hirngröße macht den Unterschied. Kleine Männerhirne sind genauso gut verkabelt wie kleine Frauenhirne. Große Frauenhirne genauso schlecht wie große Männerhirne. Und die Sache mit dem Multitasking hat noch niemand richtig untersucht."


"Unglück, Desillusion, Verwirrung - das kündigen Allan und Barbara Pease jedem an, der nicht an die unterschiedlichen Geschlechtsprogramme glauben mag. Doch das Gegenteil trifft die Sache eher. [...] College-Schülerinnen, überdurchschnittlich gut in Mathe, lösten schwierige Rechenaufgaben schlechter, wenn ihnen ihnen vorher sagt, ihre Ergebnisse würden mit denen von Männern verglichen."


"Die biologische Bestimmung ist zur scheinbar letzten Wahrheit geworden in einer Welt, in der die meisten anderen Überzeugungen keinen Halt mehr finden - eine Ersatzreligion für Menschen, die von sich selbst nicht selten behaupten, jeder Metaphysik abhold zu sein. [...]>>Die Gegensätze zwischen Männern und Frauen sind gewaltig. Wir sollten lernen damit zu leben<<, überschrieb kürzlich ein deutsches Wissenschaftsmagazin einen Artikel. Nur: Warum? Wem ist geholfen, wenn man als naturgegeben hinnimmt, daß Männer nunmal risikofreudiger, Frauen dagegen - um mal ein nettes Vorurteil nehmen - intellektuell leistungsfähiger sind? [...]
Es geht nicht um Gleichmacherei, nicht um die Leugnung von Unterschieden. Im Gegenteil: Es geht um Freiheit. Nicht >>Männer>> und >>Frauen<< sind grundverschieden, sondern zum Glück: Jeder Mensch ist anders. Nicht jeder muß einparken lernen. [...] Nicht einparken zu können ist das Gleiche wie Gartenzwerge vor der eigenen Haustür aufzustellen. Das Gleiche, wie Bomben zu legen. Kein biologischer Zwang. Eine Entscheidung."

3 Comments:

At Wed Jul 22, 12:14:00 AM 2009, Anonymous Anonymous said...

hi :) ich habe den beitrag mit interesse gelesen. vielleicht ist das weiterlesen eines beitrages interessant - biologie ging und geht nämlich keineswegs stets von zwei geschlechtern aus, vielmehr wählte sie für ihre gesamten geschlechterforschungen einen anderen ausgangspunkt... :

Voß, Heinz-Jürgen (2008): Wie für Dich gemacht: die gesellschaftliche Herstellung biologischen Geschlechts. In: Coffey, Judith et al. (Hrsg.): Queer leben – queer labeln? (Wissenschafts-)kritische Kopfmassagen. fwpf Verlag, Freiburg, S.153-167.

 
At Thu Jan 21, 05:11:00 AM 2010, Anonymous Anonymous said...

Von dem gleichen Autoren gibt es das folgende Buch - mittlerweile bin ich fast schon davon überzeugt, dass es biologisch gar kein Geschlecht gibt^^

Voß: "Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive"
http://www.transcript-verlag.de/ts1329/ts1329.php

 
At Tue Aug 24, 10:39:00 AM 2010, Anonymous Christian said...

Es spricht schon vieles für biologische Grundlagen bei den Geschlechtern. Schließlich gibt es viele körperliche Unterschiede zwischen mann und Frau, die durch Evolution entstanden sein müssen. Das setzt voraus, dass Männer und Frauen verschieden innerhalb der Evolution selektiert wurden, weil sie sonst gleiche Körper hätten,also auch verschiedene Tätigkeiten ausgeübt haben müssen. Dann hätte aber auch ein Vorteil darin bestanden, dass Gehirn auf diese unterschiedlichen Tätigkeiten zu optimieren. Körper und Gehirn unterliegen der gleichen evolution.
Das empfohlene Buch von Voss berücksichtigt dies leider nicht und vertritt eher Randmeinungen in der Biologie

 

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