Tuesday, August 19, 2008

Blutige Vernunft (2)

Der innere Drang der Verwertungsbewegung als historischer Prozess besteht darin, zur absoluten Selbstgenügsamkeit der leeren Formabstraktion zu gelangen: die Weltgegenstände daher so lange zuzurichten, bis sie in der Leere dieser Form verschwinden - also durch Weltvernichtung. Damit ist der Todestrieb des aufklärerischen Subjekts und seiner identitätslogischen, abspaltenden Vernunft gesetzt, der sich durch die Modernisierungsgeschichte hindurch entfaltet. [...]

In Romantik, Lebensphilosophie, Existentialismus und deren vielfältigen Derivaten kommt die repressive und zerstörerische Irrationalität des Wert-Abspaltungsverhältnisses unmittelbar auch auf der Seite des Wertsubjekts zum Ausdruck, allerdings in entsprechenden Formen. Während die abgespaltenen, in der Wertform nicht aufgehenden Momente der Sinnlichkeit, Emotionalität, der mangels wertförmiger Darstellbarkeit nicht oder nur unter katastrophalen Friktionen ökonomisierbaren "Hege und Pflege", der damit verbundenen Reproduktionsbereiche etc. als die "weibliche", naturhafte, nicht begrifflich erfassbare (und letztlich zu eliminierende) Irrationalität im Gegensatz zum gepanzerten Wertsubjekt erscheinen, naturalisiert und irrationalisiert sich dieses Subjekt der vom Wert gesetzten Rationalität in den subjektivistischen Ideologien selbst; aber bloß kompensatorisch als das, was es ist: Die abstrakte Rationalität schlägt unvermittelt in eine ebenso abstrakte Irrationalität um, die Identität von bürgerlicher Vernunft und objektivem Wahn wird deutlich.

Mit der romantisch-existentialistischen Adaption der Irrationalität dementiert sich das männlich-weiße Wertsubjekt nicht; es entdeckt die "weibliche" (sinnliche) Seite in sich folgerichtig nur als Todes- und Schlächterphantasie, wie sie sich schon von den Ursprüngen der frühmodernen "militärischen Revolution" her im "Kult der Kanonen" herausgebildet hatte und den Bezug zur sinnlichen Welt als abstrakte Vernichtungslogik entwickelte, die sich im Todestrieb der vom Wert bestimmten Subjektform objektiviert hat. Der romantische Kult des Fragmentarischen ist der Trümmerkult der vom Wert verwüsteten Welt, also dem identitätslogischen Totalitarismus nicht entgegengesetzt, sondern dessen Spiegelbild in der Sinnenwelt. "Sinnlich" ist das aufgeklärte Wertsubjekt nur, indem es sinnbildlich oder buchstäblich die Welt zertrümmert und im Blut watet. Diese negative Sinnlichkeit ist selber abstrakt, in ihr erscheint periodisch und auf wachsender historischer Stufenleiter unmittelbar der Todestrieb des Wertsubjekts, das die Welt in die leere Form seiner Realabstraktion auflösen möchte.

Die romantische männliche Liebe hat ihr Objekt am liebsten in der Form der Wasserleiche (Ophelia); von den höchsten artifiziellen Ausdrucksformen bis zum Stammtisch ("Der Bauch, der war bemoost; meine Herren, Prost!"). Die Literaturhistorikerin Elisabeth Bronfen hat dazu Anfang der 90er Jahre eine umfassende Monografie vorgelegt ("Nur über ihre Leiche": Tod, Weiblichkeit und Ästhetik). In den Blut- und Bodenideologien nimmt diese Irrationalität selber die Form des Vernunftbegriffs an; und auf den Schlachtfeldern der Modernisierungsgeschichte kommt diese negative, abstrakte Sinnlichkeit des "Blutes" zu sich; in der liebenden mann-männlichen Umarmung der Wertsubjekte, die sich gegenseitig mit Bajonetten durchlöchern, ebenso wie in der Romantisierung der Bluträusche in den industrialisierten Großkriegen des 20. Jahrhunderts (Ernst Jünger).

Wie die Abspaltung der "weiblich" definierten, unerlässlichen und dennoch immer wieder und immer brutaler vernachlässigten, eingeschnürten oder direkt zerstörten Momente der Reproduktion das destruktive Wertsubjekt nicht in Frage stellt, sondern vielmehr erst ermöglicht, solange sich der Todestrieb nicht vollendet hat, so überwindet die irrationale Existenzideologie und die negative, blutige Sinnlichkeit der romantisch werdenden Aufklärungs-Männlichkeit dieses Subjekt erst recht nicht, sondern bringt sein weltvernichtenden Wesen zum Vorschein.

Es ist der regelmäßige Fieberanfall der aufgeklärt-rationalen Macher wie der aufgeklärt-rationalen kontemplativen Theoretiker selbst, in dem sich die Irrationalität dieser Ratio zeigt. Es ist also Kant im Zustand der Sinnlichkeit, das heißt der Niedermetzelung alles Lebenden, das nicht in der Wertabstraktion aufgehen kann. Darin zeigt sich die negative, polare Identität von bürgerlicher Moderne und (scheinbarer) bürgerlicher Gegenmoderne. Und nur in dieser unmittelbaren Identität von wertförmiger Vernunft und Vernichtung kann auch der Macher mit dem Denker zusammenfallen. Die bürgerliche Einheit von Theorie und Praxis ist das Vernichtungslager, die Atomexplosion, das Flächenbombardement. Darin besteht der verborgene gemeinsame Nenner von Kant, Hitler und Habermas, von deutscher Ideologie und US-Pragmatismus, von liberaler Zwangsfreiheit und totalitärem Autoritarismus. Trotz aller historischen Gegensätzlichkeit in der Durchsetzungsgeschichte der Wertvergesellschaftung wird dieser gemeinsame Nenner in den großen Krisen und zumal an den Grenzen des Systems sichtbar. Und in dieser Hinsicht gilt es zusammen zu denken, was zusammen gehört.
(Robert Kurz: Blutige Vernunft, 2004)

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